Kunst, die bisher nicht möglich war

Der Brite Jonty Hurwitz schafft mit 3D-Druck und digitalen Technologien nie da gewesene Kunstwerke. So entstanden die kleinsten Skulpturen der Welt und rätselhafte Formen, die erst in Zerrspiegeln einen Sinn ergeben.

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Dieser Interview-Ausschnitt ist der aktuellen Print-Ausgabe der Technology Review entnommen. Das Heft ist ab 24.4.2017 im gut sortierten Zeitschriftenhandel und im heise shop erhältlich.

Hurwitz, 47, bekam 2015 einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde – für die kleinste Skulptur eines menschlichen Körpers. Sie ist nur 100 Mikrometer groß. Dazu ließ er das Fotomodell Yifat Davidoff scannen und die Daten am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) per Multiphotonen-Lithografie ausdrucken. Dabei härten je zwei Photonen winzige Stellen in einem Kunstharz aus. Noch sechs weitere Skulpturen entstanden auf diese Weise.

Da sie für das bloße Auge und auch für normale Lichtmikroskope praktisch unsichtbar waren, mussten sie mit einem Rasterelektronenmikroskop fotografiert werden. Dabei geschah es: Beim Herumhantieren berührte ein Techniker den Objektträger und zerstörte alle Skulpturen. Heute arbeitet Hurwitz an gewaltigen anamorphen Skulpturen – verzerrten Strukturen, die sich nur über einen gekrümmten Spiegel entziffern lassen.

TR: Sie haben früher als Finanzanalyst gearbeitet und Algorithmen zur Risikoabschätzung geschrieben. Wie sind Sie von da zur Kunst gekommen?

HURWITZ: Die Frage unterstellt ja, dass es sich dabei um zwei völlig unterschiedliche Sachen handelt. Aber das müssen sie nicht unbedingt sein. Wenn du Mathematik und Engineering liebst, kannst du diese Fähigkeiten überall anwenden, wo du möchtest.

Und wie genau helfen einem die Fähigkeiten als Risikoanalyst bei der Erschaffung von Skulpturen?

Es geht dabei viel um die Arbeit mit unglaublich talentierten Menschen. Die Idee vom einsamen Künstler, der irgendwo in the middle of nowhere an seinem Kunstwerk arbeitet, hat sich überholt. Heutzutage ist das mehr wie in einem Filmprojekt: Es geht darum, unterschiedliche Fähigkeiten zusammenzubringen und dabei wundervolle kreative Lösungen zu finden, was auch immer das Problem sein mag. Im Finanzkontext habe ich mit einem wundervollen Team zusammengearbeitet, um die Entscheidungsfindung zu optimieren.

Kunst ist für Sie also eine Art Problemlösung?

Ja, in meinem Herzen bin ich immer noch Ingenieur. Am Anfang steht eine Botschaft, dann nutze ich meinen künstlerischen Instinkt und einen Ingenieuransatz, um sie rüberzubringen. Dazu gehört auch, Publikationen zu lesen und sich umzuschauen, was sich in der Technikwelt Spannendes tut, wo Leute die Grenzen der wissenschaftlichen Welt ausweiten.

Beim Fall der Nanoskulpturen – was war das Problem, das es zu lösen galt?

Ich hatte plötzlich meine erste große Liebe aus Teenagerzeiten wiedergetroffen – nach 25 Jahren. Das war ein magischer Moment. 25 Jahre sind genug Zeit, um eine Person aus den Gedanken verschwinden zu lassen. Aber in dem Moment, als wir uns wiedersahen, kam unsere ganze Liebesaffäre augenblicklich zurück in den Kopf. Es ist unglaublich, wie unser Gehirn eine komplette Liebe irgendwo verpacken und archivieren kann – und im Bruchteil einer Sekunde wieder entzippen. Wir suchten dann nach einem Weg, dies auszudrücken. Das führte zur Idee von Extremität: Es ist schwer, Zeit in ihrer Extremität auszudrücken, aber es war eine wundervolle Idee, die Zeit als Raum auszudrücken. Also drückte die kleinste Skulptur der Welt die größte Liebe aus.

Wie ging es dann weiter, als Sie die ausgedruckten Skulpturen bekamen?

Ich habe sie mit einem Elektronenmikroskop fotografieren lassen, aber die Bilder brachten die eine drängende Frage nicht rüber, die Menschen sofort im Kopf haben: Wie klein ist dieses Ding? Also suchte ich nach einem Weg, die Größenverhältnisse so zu zeigen, dass jeder sie begreift. Jedes Kind, jeder Erwachsene hat schon mal durch ein Nadelöhr geschaut, und jeder hatte schon mal mit Ameisen zu tun. Also nahm ich Bilder von diesen Dingen und habe sie mit Photoshop eingebaut.

Und dann hat ein unvorsichtiger Techniker beim Mikroskopieren die Originale zerstört. Sind Sie mittlerweile darüber hinweggekommen?

An diesem Tag habe ich vor allem an all die verlorene Zeit, das Geld und die Leidenschaft gedacht, und ich war absolut geschockt. Es waren schließlich die kleinsten menschlichen Skulpturen, die jemals hergestellt wurden. Als ich abends nach Hause kam, war ich sauer und aufgebracht, hatte ich alle negativen Emotionen, die man sich vorstellen kann. Und dann habe ich meinem damals elf Jahre alten Sohn die Geschichte erzählt. Er hat sich totgelacht und gesagt: Dad, das ist wirklich eine tolle Geschichte. Und da ist mir plötzlich klar geworden: Ich habe die Skulpturen verloren, aber eine Story gewonnen. Die BBC-Dokumentation darüber haben im Internet mittlerweile Hunderte Millionen Menschen gesehen, und ich glaube, gerade wegen dieser Story ist der Film so viral geworden.

(grh)