"Männer werden in der Fortpflanzungsmedizin vernachlässigt"

Hagai Levine, Epidemiologe an der Hebrew University in Jerusalem, spricht im Interview mit Technology Review über seine aufsehenerregende Studie zur sinkenden Spermienkonzentration bei Männern in der westlichen Welt.

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Levine, Leiter des Environmental Health Track der Hadassah Braun School of Public Health, legte in der vergangenen Woche zusammen mit einem großen Team eine Metastudie vor, laut der sowohl Spermienkonzentration als auch Spermiengesamtzahl in den vergangenen 30 Jahren signifikant zurückgegangen sind. Im TR-Interview spricht er über die Methoden und die möglichen Auswirkungen seiner Forschung.

Technology Review: Herr Levine, als Ihre Studie vor einigen Tagen herauskam, war sie weltweit in den Nachrichten. Haben Sie eine derart große Reaktion erwartet und was ist Ihre Begründung dafür?

Hagai Levine: Es ist immer schwer zu sagen, wie die Medien reagieren. Wir wussten, dass unsere Studie große Auswirkungen haben würde und als Wachruf dienen sollte. Die wissenschaftliche Stärke unserer Studie, die die Forschungsgemeinde anerkannt hat, zusammen mit der Wichtigkeit der Ergebnisse für uns alle sowie die Popularität des Themas könnten zu dieser Reaktion geführt haben. Wir hoffen, dass die Aufmerksamkeit nun dazu führt, dass Pläne entstehen, die Auslöser des Rückgangs in der Spermienqualität anzugehen.

Für mich persönlich war die Leitung dieser Studie mit so vielen Daten ein so hoher Berg, den es zu erklimmen galt und ein so langer Prozess, dass ich sehr froh bin, dass wir sie und unsere Botschaft nun endlich veröffentlichen konnten.

TR: Es gab Schlagzeilen, in denen es hieß, die Menschheit könnte eines Tages "aussterben", wenn sich der Trend fortsetzt. Ist das eine Übertreibung oder ein Stückchen Wahrheit?

Levine: Ich selbst habe gesagt, dass Vorhersagen, insbesondere solche, die die längere Zukunft betreffen, schwer sind. Wir sollten uns nun auf die direkten und klar vor uns liegenden Gefahren konzentrieren und die Sache angehen. Denn wir haben ganz klar ein Problem mit der Gesundheit und Fruchtbarkeit eines großen Anteils der männlichen Bevölkerung in den westlichen Ländern. Unser Handeln wird bestimmen, ob und wann die sich reduzierende Zeugungsfähigkeit die Existenz unserer Spezies bedroht.

Persönlich habe ich selbst große Sorgen, was passiert, wenn wir so weiterleben, wie wir es heute tun, ohne dass wir uns um die Auswirkungen unseres Handelns auf unsere Gesundheit und unsere Umwelt scheren – insbesondere im Bereich der Chemikalien, die wir produzieren. Es mag hier eine Übertreibung der Medien gegeben haben, aber auf der anderen Seite gibt es auch eine andauernde Verleugnung der tatsächlichen Risiken, die mit menschengemachten chemischen Stoffen und unserer modernen Umwelt einhergehen. Ich liebe Technik, die unser Leben verbessert (inklusive neuer Chemikalien in dieser Kategorie), aber gleichzeitig sollten wir die breiteren Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt untersuchen, wenn wir neue Verfahren verwenden.

TR: Wie sind Sie Ihre Metastudie in der Praxis angegangen? Nahmen sie alle verfügbaren Untersuchungen, die Spermienkonzentration und Spermienzahl enthielten und führen sie dann Ihrem Datensatz hinzu, also auch Studien, in denen es nur zum Teil um Fruchtbarkeit ging?

Levine: Der Prozess war sehr langwierig und herausfordernd. Wir schrieben zunächst einen Entwurf unseres Protokolls und führten dann eine vollständige Pilotstudie mit allen Schritten durch – mit einer Datenbankanalyse, um nach Studien, einem Screening der Publikationen, der Datenextraktion und schließlich der Datenanalyse. Wir erkannten, dass diese Aufgabe viele Jahre dauern würde und dass eine große Studie ein großes Team voraussetzte, was dann dazu führte, dass wir zusätzliche Forscher einluden. Wir führten die breiteste Suche durch, die möglich war und suchten nach jeder Studie (nach 1980), die die notwendigen Begriffe enthielten, selbst wenn sie sich nur im Manuskript versteckten. Daraus ergaben sich 7500 potenzielle Kandidaten. Wir waren vorsichtig darin, Studien auszuklammern und lasen daher den Volltext von über 2500 Studien, woran man schon die Aufgabe erkennen kann.

Um zu vermeiden, dass es Verzerrungen gibt und um systematisch zu arbeiten, schrieben wir ein sehr genaues Protokoll, das jeden einzelnen Schritt dokumentiert, es wurde zusammen mit der Studie veröffentlicht. Rachel Pinotti, unsere Bibliothekarin, half mir hier sehr – ohne eine großartige Bibliothekswissenschaftlerin sind solche systematischen Untersuchungen, die der entscheidende erste Schritt einer solchen Metastudie sind, nicht möglich.

Es war ein mühsamer Prozess, die Studien zu validieren, die unsere Kriterien zur Aufnahme oder Zurückweisung entsprachen, was stets unter der Maßgabe erfolgte, Voreingenommenheit zu vermeiden. Wir mussten außerdem sicherstellen, dass wir keine doppelten Daten haben (also Studien, die in mehreren Publikationen veröffentlicht wurden).

Dann wurden alle relevanten Informationen extrahiert und es kamen schließlich 185 Studien mit 244 validen Einschätzungen der Spermienkonzentration und der Gesamtzahl der Spermien in einer Probe heraus, die wir dann einer Metaregressionsanalyse zuführten.

TR: Die von Ihnen festgestellten 52 Prozent Rückgang in der Spermienkonzentration klingen nach sehr viel, doch die 47 Millionen Samenzellen pro Milliliter, die Sie errechnet haben, liegen immer noch deutlich über dem Niveau, das von der Weltgesundheitsorganisation WHO als "normal" tituliert wird. Ist das vielleicht einfach nur "der neue Normalwert", wie es Allan Pacey, ein Androloge an der University of Sheffield, gesagt hat?

Levine: Das finde ich eher witzig, denn die WHO hat diesen Normwert gerade erst gesenkt, weil es einen Rückgang gibt. Es ist schwer, sich bei jedem anderen menschlichen biologischen Wert eine derartige dramatische Veränderung vorzustellen. Es wäre so, als würden wir den Normalwert für den Body-Mass-Index auf 30 setzen und sagen, dass jetzt alles ok ist und wir kein Problem mit dem Übergewicht haben.

Diese dramatische Änderung in der Spermienkonzentration beim Mann muss sich darin widerspiegeln, dass sich der Anteil der Männer, die bei weniger als 40 Millionen pro Milliliter oder sogar weniger als 15 Millionen pro Milliliter liegen, erhöht hat. Damit steigt natürlich auch die Proportion jener Männer an, die mit schlechter oder nicht vorhandener Fruchtbarkeit kämpfen, wovon wir aus anderen Studien in vielen Ländern wissen.

Es ist außerdem ganz klar, dass Probleme bei der Zeugungsfähigkeit sehr lange "unter dem Radar fliegen" können, weil auch ein Mann mit einer sehr geringen Spermiengesamtzahl ein Kind zeugen kann, obwohl die Wahrscheinlichkeit geringer ist und es für das Paar länger dauert, bis es zur Schwangerschaft kommt.

Weiterhin muss man sich die Frage stellen, was die Reduktion der Spermienzahl über die Qualität des einzelnen Spermiums aussagt. Wir müssen diese problematische Frage angehen und sie nicht verdrängen. Außerdem gibt es eine Verbindung zwischen zu wenig Samenzellen im Ejakulat und einer höheren Morbidität und Mortalität, eine weitere Tatsache, die mir Sorgen bereitet.

Alles in allem kann ich nur wiederholen: Es ist ein klares Signal, der berühmte Kanarienvogel in der Kohlenzeche, dass wir ein Problem haben und etwas getan werden muss. Mich selbst hat es in dieses Forschungsfeld gezogen, weil ich verstanden hatte, dass die männliche Fortpflanzungsfähigkeit ein sensibler Marker für die allgemeine Situation der Menschheit ist.

TR: Was sagen Sie zu einer dänischen Studie, die von 1996 bis 2010 durchgeführt wurde und keinen großen Rückgang festgestellt hat? Wie deckt sich das mit Ihrem Ergebnis?

Levine: Wir dachten, wir könnten vielleicht ein Abflachen der Kurve feststellen, wenn die Menschheit einen sehr geringen Mittelwert bei der Spermienzahl erreicht hat, wie es in Dänemark der Fall ist, wo ein großer Teil der Bevölkerung "subfertile" ist, also erst nach mehreren Versuchen zeugungsfähig. Überraschenderweise gibt es dieses Abflachen aber nicht und der Rückgang unter Männern in den westlichen Ländern sitzt sich auch nach 1995 fort.

Wir haben eine Empfindlichkeitsanalyse ohne Dänemark durchgeführt und der Abfall der Kurve für die restliche Kohorte war etwas steiler (minus 1,38 Millionen pro Milliliter pro Jahr mit Dänemark, minus 1,57 Millionen pro Milliliter pro Jahr ohne Dänemark).

Wir müssen Überwachungssysteme wie das in Dänemark aufbauen, um zu wissen, was vom heutigen Tag an in anderen Ländern abläuft. Basierend auf früheren Studien haben wir die Hypothese, dass Männer, die in einer sehr frühen, also pränatalen Phase schlechten Umweltbedingungen ausgesetzt waren (Chemikalien, Stress, Hitze und so weiter), Fehlentwicklungen im Hodenbereich (Dysgenesie) aufweisen, die dann zu einer geringeren Spermienkonzentration im Erwachsenenleben führen. Entsprechend müssen wir mehr zu den Gründen forschen. Und vielleicht hat Dänemark ja mittlerweile ein derart niedriges Niveau erreicht, dass die Kurve sich abflacht.

TR: Was sollten die Gesundheitsbehörden mit Ihren Daten nun machen? Sind Sie bereits in Diskussionen?

Levine: Auf globaler Ebene ist es uns gelungen, große Gefahren für die Menschheit zu erkennen und gegen sie zu kämpfen – etwa im Bereich Krebs, HIV und anderen Infektionskrankheiten wie Polio. Ich hoffe, dass der Bereich Fortpflanzung bald als Problem der öffentlichen Gesundheit erkannt wird – insbesondere im Bereich der männlichen Zeugungsfähigkeit, die heute vernachlässigt wird. Wir brauchen eine koordinierte wissenschaftliche Anstrengung.

Daneben benötigen wir politische Veränderungen, etwa was die Regulierung vom Menschen gemachter Chemikalien anbetrifft, die wir stärker auf ihre Auswirkungen auf die männliche Fortpflanzungsfähigkeit untersuchen sollten – und zwar bevor große Teile der Bevölkerung ihnen ausgesetzt werden und nicht danach.

Ich denke, es muss eine ernste Debatte her und wir brauchen einen Aktionsplan. An diesem Prozess beteiligen wir uns gerne. Ich hoffe also, dass wir bald von den führenden Gesundheitsorganisationen hören werden, wie wir das Problem angehen können.

TR: In der Fortpflanzungsmedizin konzentriert man sich derzeit stärker auf die Frau als den Mann. Warum ist das so?

Levine: Es ist eben einfach, das Problem der männlichen Unfruchtbarkeit zu umgehen, indem man schlicht Sperma von einem Spender nimmt. Doch das löst ja das Grundproblem nicht aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit. Es hat aber sicher auch kulturelle Gründe, denke ich. Frauen wurden in der medizinischen Forschung lange vernachlässigt, doch im Bereich der Fortpflanzungsmedizin waren das bis jetzt die Männer. Wir benötigen einen ganzheitlichen Ansatz und müssen Frauen, Männer und ihr Zusammenleben berücksichtigen, um Fortpflanzungsprobleme zu untersuchen, zu verhindern und zu behandeln. (bsc)