Der Futurist: Kleine Fluchten

Was wäre, wenn es Wahrheit auf Knopfdruck gäbe?

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Das Café ist schummrig. Der rote Plüsch ist stellenweise abgewetzt. Der Kaffeeduft, der die Räume durchzieht, ist von einer leichten Staubnote unterlegt. Ich bin offenbar zu früh – Petra ist noch nicht da. Ich wähle einen Tisch in einer schummrigen Ecke. Dass ich mich mit einer alten Freundin verabrede, die ich seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen habe, ist ja nicht weiter verwerflich. Dass wir uns ausgerechnet hier treffen, könnte allerdings für Gesprächsstoff sorgen. Besser, man wird nicht erkannt.

Das Café Voltaire ist ein Geheimtipp für Menschen, die – na, sagen wir mal – ganz offen reden wollen. Auch wenn vielleicht nicht alles, was sie sagen, komplett den Tatsachen entspricht. Es gibt nicht mehr viele Orte wie diesen. Orte, an denen es kein Wahrheitsfeld gibt. Unter der Hand werden solche Adressen manchmal weitergegeben – hastig geflüstert oder schnell auf Zettel gekritzelt. Sie sind nicht verboten, aber gesellschaftlich verpönt.

Der Futurist

(Bild: 

Mario Wagner

)

"Was wäre, wenn ...": TR-Autor Jens Lubbadeh und die Redaktion lassen in der Science Fiction-Rubrik der Kreativität ihren freien Lauf und denken technologische Entwicklungen in kurzen Storys weiter.

Natürlich bin ich nicht gegen das Wahrheitsfeld. Es war ein echter Segen damals. "Postfaktisches Zeitalter", ich erinnere mich nur mit Grausen. 2021 war das Jahr, in dem erstmals mehr Menschen den Fakes glaubten als den Fakten. Die PfPR, die "Postfaktische Partei im ehemaligen Reichsgebiet", eine radikale Abspaltung von der AfD, stand kurz vor der Wahl in den Umfragen auf über 40 Prozent. Dann stellte Peter Singer die erste Wahrheitsmaschine vor. Zuerst haben alle die Meldung nur für eine neue Fake-News gehalten.

Tatsächlich aber hatten Wissenschaftler der Universität Zürich bereits 2017 erste Hinweise darauf gefunden, dass nach einer transkraniellen Stimulation bestimmter Hirnregionen Menschen nicht mehr lügen können. Das erste Gerät von Singer war ein monströser Helm. Denn die Stimulation muss präzise ausgerichtet werden, und dafür war jede Menge Elektronik nötig. Recht schnell wurden jedoch kleine Implantate entwickelt, die die Lage einzelner Hirnregionen im Raum drahtlos weitermelden. Hinzu kamen flexible Sender mit Metamaterial-Antennen. Beides zusammen ermöglichte die präzise Wahrheitsstimulation zu jeder Zeit an jedem Ort.

Der operative Eingriff war vergleichbar dem Stechen eines Ohrlochs. Die Ersten, die das für sich nutzten, waren Anwälte, Notare – und Journalisten. Für sie entwickelten sich die Implantate zu einem Statussymbol, das allen ver-riet: Ich bin nichts als der Wahrheit verpflichtet. Schluss mit dem Vorwurf der "Lügenpresse". Das baute öffent-lichen Druck auf: Beamte, Polizisten, Ärzte und Politiker sollten nur noch unter dem Einfluss des Wahrheitsfelds arbeiten. Der Erfolg war verblüffend. Die populistische Bewegung fiel auf einen Schlag in sich zusammen. Plötzlich hielt die Vernunft wieder Einzug in die Welt.

Gesellschaftlich hat sich das Wahrheitsfeld allerdings als echter Rückschritt erwiesen. Nicht nur bestimmte Berufsgruppen benutzten das Feld. Bald traute sich praktisch keiner mehr, öffentlich ohne eingeschaltetes Implantat herumzulaufen. Wenn die grüne Mikro-LED an der Schläfe nicht blinkt, wird man behandelt wie ein Aussätziger. Aber weil alle immer die Wahrheit sagen, ist das Leben vollkommen unerträglich geworden. Bei der Frage "Wie geht es dir?" bekommt man die komplette Lebensgeschichte wildfremder Menschen serviert.

Die Scheidungsrate ist auf über 80 Prozent gestiegen. Ich bin kein Neo-Luddit, aber so geht das nicht weiter. Lügen sind nun mal der Schmierstoff alles Sozialen. Cafés wie dieses hier bieten abgeschirmte Räume als speziellen Service an – garantiert ohne Wahrheitsfeld. Ich atme noch mal tief durch. Da kommt Petra. Meine Güte, ist die alt geworden. Ob sie dasselbe denkt? Was sage ich jetzt nur? (wst)