Das Leben besser im Griff haben

Jugendlichen und Erwachsenen mit zierlichen Händen passen übliche Prothesen oft nicht. Abhilfe schafft ein Unternehmen aus Karlsruhe. Betroffene können mit den bionischen Händen sogar Kartoffelchips greifen, ohne sie zu zerbröseln.

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Inhaltsverzeichnis

Einen Becher greifen, eine Chipkarte halten oder einen Taschengriff anfassen: Für gesunde Menschen sind solche Bewegungen schnell getan. Menschen, denen die Hand oder Teile der Hand fehlen, stellt das jedoch vor Herausforderungen. Sie müssen die Bewegungsabläufe mit einer Prothese erst neu lernen. Das künstliche Gliedmaß ist ungewohnt und schwerer als die natürliche Hand, zudem ist sie auffälliger. Wie das Leben für Betroffene dennoch einfacher gestaltet werden kann, daran arbeitet Vincent Systems. Das Karlsruher Unternehmen hat sich dabei auf eine spezielle Gruppe unter den Prothesenträgern fokussiert: Es fertigt Prothesen für Kinder, Jugendliche und Personen mit zierlichen Händen und schließt damit eine Versorgungslücke für all jene, denen bisher verfügbare Lösungen nicht passten. Darüber hinaus sind alle Prothesen der Karlsruher serienmäßig mit einem Tastsinn ausgestattet. Für ihren Ansatz ist Vincent Systems als drittes Team für den Deutschen Zukunftspreis 2017 nominiert.

Deutscher Zukunftspreis 2017

In der Folge stellen wir die drei nominierten Teams für den Deutschen Zukunftspreis 2017 mit ihren Projekten vor. Der Gewinner wird am 29. November bekannt gegeben.

Den Gründer des Unternehmens, Stefan Schulz, treiben vor allem die besonderen Ansprüche der Betroffenen an: "Die jungen Prothesennutzer sind besonders aktiv und haben andere Ansprüche an eine Handprothese als zum Beispiel ein Erwachsener." Schulz beschäftigt sich bereits seit 1998 mit der Handprothetik, seit er seine Forschungstätigkeit am Karlsruher Institute of Technology (KIT) aufnahm. Am KIT entwickelte er etwa die "Fluidhand", die als erste hydraulische Handprothese fünf verschiedene Griffe beherrschte und über Bewegungssignale in den Muskeln gesteuert werden konnte. Diese Arbeiten hat Schulz zusammen mit seinem Team bei Vincent Systems fortgeführt und zu serienmäßigen Alltagsprodukten weiterentwickelt.

Das Ergebnis sind drei Prothesensysteme, die auf Leichtbaumaterialien setzen, deren Finger und Daumen einzeln beweglich sind. VINCENTevolution richtet sich an Erwachsene mit zierlichen Händen und ist in fünf Größen verfügbar. VINCENTpartialhand bietet elektrische Einzelfinger- und Daumenprothesen als Teilhandersatz. VINCENTyoung ist als Handprothese für Kinder und Jugendliche von circa sieben bis 15 Jahren geeignet. "Das Hauptproblem bisheriger Kinder-Handprothesen waren eine zu geringe Öffnungsweite, eine geringe Greifkraft, eine langsame Bewegung und, dass es keine Greifvarianz gab", sagt der studierte Elektrotechniker Schulz. Aus Sicht der betroffenen Kinder war es hingegen vor allem die Form, Größe und Anatomie, die sie von ihren Freunden mit natürlichen Händen unterschied. Somit musste das Unternehmen vor allem einen Balanceakte vollbringen: Zum einen galt es, präzise funktionierende und kleine Motoren für die künstlichen Gelenke einzuarbeiten, zum anderen diese in eine filigrane Gestaltung einzufügen, die sowohl robust als auch in der Produktion bezahlbar war. "Mit einem Gewicht zwischen 280 und 310 Gramm kommen wir schon recht nahe an das natürliche Vorbild heran", so der Firmengründer. Dazu kommt das Gewicht des Prothesenschafts von 200 bis 300 Gramm. Geglückt ist den Entwicklern das mit Leichtbau-Materialien wie Aluminium-Magnesium oder Titan und 3D-Druckverfahren wie dem Lasersintern.

Deutscher Zukunftspreis: Team 3 (6 Bilder)

Mit ihren Prothese-Entwicklungen richtet sich die Firma Vincent Systems aus Karlsruhe speziell an die Ansprüche von Jugendlichen und Erwachsenen mit zierlichen Händen.
(Bild: Ansgar Pudenz / Deutscher Zukunftspreis)

Steuern lassen sich die Prothesen über Muskelsignale. Sensoren greifen dazu die Nervenimpulse auf der Haut des Prothesenträgers ab und leiten sie als Befehle an die Motoren in den Gelenken weiter. Neben den sogenannten EMG-Sensoren (Elektromyografie-Sensoren) arbeitet Vincent Systems aber auch mit Mehrkanalsensoren und einer automatisch lernenden Griffmustererkennung zusammen. "Eine solche Griffmustererkennung kann sehr praktisch sein, wenn mehrere Bewegungsachsen gleichzeitig bewegt werden sollen, wie zum Beispiel das Handgelenk und die Hand oder der Ellbogen", erklärt Schulz den Vorteil.

Für die Handprothese steht eine Auswahl von zwölf vordefinierten Griffarten zur Verfügung. Die Prothesen enthalten zudem ein Force-Feedback-System, das als Tastsinn fungiert. Es ist laut Schulz erstmals in einem Serienprodukt zu finden. Sensoren messen dabei die ausgeübten Kräfte der Prothese und melden die Information als leichte Vibration an den Nutzer. Um dem Träger nicht ständig Vibrationen weiterzuleiten und so Gefahr zu laufen, dass er sie nicht mehr als wichtiges Signal wahrnimmt, setzt Vincent Systems auf bestimmte Vibrationscodes, die die Veränderung der Greifkraft übermitteln. Durch dieses Feedback kann der Prothesenträger beispielweise Trauben greifen, ohne sie zu zerdrücken, oder Kartoffelchips, ohne sie zu zerbröseln.

(jle)