Überholen ohne einzuholen

Hätte Otto Lilienthal so gedacht wie einige Transhumanisten, würden wir heute noch nicht fliegen.

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Ich habe den Eindruck, die KI-Forschung steht im Moment ungefähr da, wo die Fliegerei zwischen Otto Lilienthal und den Gebrüdern Wright stand: Kurz nach dem Abheben, aber noch nicht wirklich in der Luft. Spinnen wir den Gedanken doch mal weiter: Wenn man eine Parallele zieht zwischen KI und Fliegerei, was könnte man daraus lernen?

Fangen wir bei den Transhumanisten an. Ray Kurzweil glaubt ja, es würde reichen, eine Armee von Nanobots durchs Hirn zu scheuchen, um alles ganz genau zu kartieren und dann eins zu eins im Computer nachbauen zu können. Das Praktische daran: Man braucht nicht wirklich zu verstehen, wie das Hirn funktioniert. Das Unpraktische: Solche Eins-zu-Eins-Übertragungen aus der Biologie haben noch nie funktioniert. Hätte Otto Lilienthal so gedacht wie Ray Kurzweil, würden wir immer noch auf künstliche Muskeln warten, damit wir uns endlich möwenflatternd in die Lüfte erheben können. Aber Lilienthal hat eben nicht so gedacht: Er hat sich den Vogelflug genau angeschaut, abstrahiert, und zwischen Vortrieb und Auftrieb unterschieden. So entstanden Fluggeräte, die sich deutlich von Vögeln unterscheiden, aber trotzdem fliegen können.

Die Gegenposition zu Kurzweil und Konsorten nehmen Menschen wie John Searle und David Gelernter ein. Sie sind überzeugt, dass eine Maschine prinzipiell niemals so etwas wie Bewusstsein oder freien Willen zustande bringen wird – eben deshalb, weil sie Maschinen sind. Nun basiert der menschliche Geist allerdings ebenfalls auf einer Maschine, einer Bio-Maschine zwar, unendlich viel komplexer als die schnellsten Rechner, aber doch eine Maschine. (Zumindest, so lange man nicht metaphysischen Argumenten zuneigt, die auch von Gelernter und Searle nicht ins Spiel gebracht werden.) Zu behaupten, Watson würde Sprache – Jeopardy hin, Jeopardy her – nicht wirklich "verstehen", weil er eben ganz anders arbeitet als ein Mensch, klingt für mich so sinnvoll wie zu sagen, ein Flugzeug würde nicht "wirklich" fliegen, weil es nicht mit den Flügeln schlägt.

Können wir aus der Luftfahrt-Metapher auch Schlüsse ziehen über die Zukunft der Künstlichen Intelligenz? Ich denke, ja. Die Visionen vom Fliegen, die Menschen wie Lilienthal und die Wrights ihrerzeit angetrieben haben, sind gleichzeitig enttäuscht und übererfüllt worden. Noch immer sind wir weit davon entfernt, frei und unbeschwert wie ein Vogel durch die Lüfte zu flattern. Andererseits geht die Möglichkeit, mehrere hundert Menschen in wenigen Stunden quer über den Atlantik zu schaffen, wohl weit über das hinaus, was sich die Flugpioniere damals vorstellen konnten. Das natürliche Vorbild bleibt unerreicht und ist doch übertroffen worden.

So dürfte es, wage ich zu behaupten, auch bei der KI weitergehen. Bestimmte Fähigkeiten wie Humor und freier Wille (so der Mensch denn tatsächlich einen hat), werden möglicherweise nie nachgebaut werden (möglicherweise auch deshalb nicht, weil niemand daran ein ausreichendes wirtschaftliches Interesse hat). Trotzdem könnte so etwas wie eine Super-Intelligenz entstehen, die sich zum menschlichen Geist verhält wie der Jumbo Jet zum Mauersegler. Man denke nur an die vielen vernetzten Sensoren, Kameras und Mikrofone, die künftig in Häusern, Straßen und Autos zu finden sein werden. Wie würde sich eine Software "fühlen", die weltweiten Zugriff auf solche Daten hätte, also praktisch überall gleichzeitig sein kann? Wäre die ganze Welt für sie so etwas wie ein Körper? Würde sie so etwas wie ein Ich bilden – oder unendlich viele Ichs? Für uns ist das unmöglich nachzuvollziehen, aber genausowenig von der Hand zu weisen.

Ist dies nun eher eine Horrorvision oder eine schöne Utopie? Ich denke, keines von beidem. Es ist wie bei der Fliegerei: Sie hat uns auf der einen Seite die Welt nähergebracht, Menschen über Kontinente hinweg verbunden – andererseits aber auch Lärm, Unfälle, Abgase und Bomben mit sich gebracht. Vor allem aber ist sie ein Werkzeug geblieben, das uns in unserem Menschsein nicht sonderlich berührt hat.

(grh)