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Was war. Was wird. Vom Regieren und Reagieren bis zum Meditieren überschwarze Kästen

Hal Faber tobt immer noch über den Unsinn, den vermeintlich "prinzipientreue" Politiker in die Weltgeschichte blasen. Da macht es die Stimmung nicht besser, dass in eben dieser Weltgeschichte so manches Monster rumgeistert.

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Bücher, Weg, Eskapismus, Flucht

Manchmal, da gibt's nicht genug Schultern, um sich auszuheulen, nicht genug Bücher, die man den lieber nicht Regierenden und vergleichbaren Figuren zur Weiterbildung anempfehlen könnte. Da möchte man einfach nur dem Eskapismius fröhnen.

(Bild: Reinhardi, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** "Digital First, Bedenken Second" – das war einmal zu einer Wahl, die es so nicht wieder gibt, weil es sie bald noch einmal gibt. Bedenken first und Digital geplatzt, so sieht das Ergebnis aus, das Plastikpolitiker Christian Lindner am Sonntagabend verkündete. "Lieber nicht regieren als falsch", diesem Werberspeak hat der Mann im weißen Hemd den Vorzug von "Ein Anfang ist gemacht" gegeben. Von "Veränderung braucht Mut" mal ganz zu schweigen: Der Mut, nach Nietzsche die vornehmste Eigenschaft des modernen Menschen, ist einer Partei der besser Verdienenden fremd. Wenn überhaupt, dann hat man ihn früh am Morgen beim Hotelfrühstück und nennt ihn dann ganz oberschick #GermanMut. Was bleibt, ist eine Partei mit weinerlichen Männern an der Spitze, die sich an einem großen Österreicher orientiert. Die CSU rechts überholen ist auch eine Perspektive.

*** Die FDP will nicht. Die CDU will keine Neuwahlen. Die SPD will keine Minderheitsregierung tolerieren. Die SPD will keine große Koalition. Jedenfalls eigentlich nicht. Oder vielleicht doch ein ganz kleines bisschen am Krümelkuchen der Macht naschen, dann müssen das eben die Parteimitglieder entscheiden. "Mut muss sich wieder lohnen", nicht nur bei Unternehmern. Den Unternommenen dämmert es, wie sehr die SPD eine Partei ist, die auf hübsche Posten aus ist. Das ist das Elend der deutschen Sozialdemokratie: Auf Ministerjobs zu verzichten, um Politexperimente zu testen, gehört nicht zu ihrem Selbstbild. Insofern ist der Spruch, den Cora Stephan einstmals zur Urgeschichte der deutschen Sozialdemokratie auf den Titel ihres Buches packte, heute wieder ungewohnt aktuell. Bei der SPD wartet man wieder auf den großen Kladderadatsch, nur ist das eben nicht der Zusammenbruch des Kapitalismus, sondern der Zusammenbruch des Systems Merkel: "Genossen, wir dürfen uns nicht von der Geduld hinreissen lassen!"

*** Nicht nur der Ende-Gelände-Spruch von Lindner macht einen ganz krank. Die FDP hat das so ähnlich ja schon in Niedersachsen von sich gegeben und uns da eine große Koalition eingebrockt, in der sich die SPD an den Nasenring durch die norddeutsche Tiefebene führen ließ. So sehr, dass der CDU-Fraktionsvorsitzende mittlerweile den "inhaltlichen Fürhungsanspruch" in der niedersächsischen großen Koalition für sich beansprucht. Ja, ich weiß, ich hab mich darüber schon aufgeregt, aber das Trauerspiel, das sowohl FDP als auch SPD heutzutage auffühen, ist ja wirklich nicht mehr zum aushalten. Einerseits große Töne spucken, und sich dann drücken – anderseits im Bund sich drücken, und im Bundesland dann einen für unmöglich gehaltenen, aber doch geschafften Wahlsieg verschenken. Man möchte heulen. Vor allem aber darüber, dass anscheinend zwischen ideologisch aufgebauschtem "Hier stehe ich und kann nicht anders" und trotzigem "Nee, Regieren ist uns jetzt zu schäbig" keine Haltung mehr möglich zu sein scheint, die im demokratischen Prozess ganz normale Kompromisse hervorbringt. Als ob ich einer Partei meine Stimme geben würde, damit sie nicht regiert. Selbst Claudia Roths Schulter ist nicht weich genug, um sich wirklich ausheulen zu können. So mancher war angesichts der Vorwahl-Unschlüssigkeit schon geneigt, auch mal ein Kreuzchen bei der FDP in Betracht zu ziehen. Dessen habe ich mich dann doch verweigert: Das wurde nichts. Bei der SPD auch nicht, übrigens. Jetzt weiß ich, dass ich an beidem gut getan habe. Ob's Kreuzchen aber nun an der richtigen Stelle gelandet ist, das wird sich noch zeigen müssen. "Jeder nur ein Kreuz" war ja auch nicht als Erleichterung gedacht.

*** Noch ein paar Anlässe gefällig, um aufzuheulen vor völlig unideologischem Schmerz? Bekanntlich will Siemens, ein kleines Stückchen älter als die deutsche Sozialdemokratie, 6900 Arbeitsplätze im Kraftwerksbau streichen. Das ärgert nicht nur die IG Metall, sondern auch den derzeit obersten Sozialdemokraten Martin Schulz. Der nannte den Arbeitsplatzabbau "asozial" und wies darauf hin, dass die Bundesrepublik Deutschland ein großer Auftraggeber von Siemens ist, nur um im selben Atemzug zu gestehen, dass auch die schwielige Faust der großen deutschen Sozialdemokratie nicht ordentlich zupacken kann. "Ich kann den Unternehmen nicht auferlegen, dass sie Arbeitsplätze erhalten müssen."

*** Diese Erkenntnis des Arbeiterführers wird durch das Geklage des derzeit obersten Siemens-Chefs Joe Kaeser glatt getoppt. Sein tolles Unternehmen habe in fünf Jahren 20 Milliarden Euro in die BRD eingezahlt und mitnichten einen Planungsfehler begangen, sondern die "in der Sache richtige, aber in Ausführung und Timing höchst unglücklich umgesetzte Energiewende" sei schuld. Bei diesen Worten lohnt es sich, an die süße Vorweihnachtszeit vor 12 Jahren zu erinnern, als Siemens-Vorstand Thomas Ganswindt, damals Deutschlands oberster Bestecher, ein Weihnachtsmärchen erzählte und beklagte, dass Deutschland nicht konsequent genug den Megatrends folgt – damals war das übrigens die Gründung von Youtube. Aber bereits im Jahre 2005 stand der wenig rentable Groß-Kraftwerksbau bei Siemens zur Debatte, lange vor dieser heute beschuldigten "unglücklichen Energiewende". Mit Bestechung aus Tradition ging es voran. Der Rest ist Schweigen.

*** Der letzte Völkermordprozess zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist vorbei. General Ratko Mladic, der Oberkommandant der bosnischen Serben wurde für seine Verbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt. Er wurde schuldig befunden, vier Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, darunter das Massaker von Srebenica und die Belagerung von Sarajevo. 24 Jahre hat die Aufarbeitung der Kriegsverbrechen gedauert. Wer sich fragt, was die Geschichte vom Völkermord auf der technikgetriebenen Nachrichtenseite zu suchen hat, sei an die Geschichte des von Eric Bachmann aufgebauten Zamir Transnational Netzwerkes erinnert, ein mutiger elektronischer Versuch, die Kommunikation unter den Menschen im zerfallenden Jugoslawien in Gang zu halten. Damals konnte man aus Serbien keine Gespräche mit Kroatien führen, ein Hack war gefragt. Ausgerechnet die kleine Bionic-Mailbox in Bielefeld machte es möglich, dass es eine Kommunikation zwischen Zagreb und Belgrad, Ljubljana und Tuzla oder Pristina und eben dem belagerten Sarajevo gab. An diese heilende Kraft der Verständigungsversuche sollte man sich erinnern, wenn in diesen Tagen der Geburtstag von Digitalcourage formerly known as FoeBuD gefeiert wird.

"Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selbst aus. Er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt, er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung." Nein, diese Passage stammt nicht aus einer der vielen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zur Videoüberwachung und dem Konformitätsdruck, den Kameras ausüben. Sie stammt aus Überwachen und Strafen, einem Hauptwerk von Michel Foucault und ist ein kleiner Hinweis auf den Aktionstag des Bündnisses Endstation am Berliner Bahnhof Südkreuz. Mit dabei ist übrigens Digitalcourage a.k.a wissenschon. Denn am Südkreuz arbeitet die modernste Videoüberwachungstechnik zu unser aller Sicherheit: Nach der im Sommer gestarteten Testreihe zur automatischen Gesichtserkennung ist jetzt auch die musterbasierte Verhaltensprüfung aktiviert, mit der systematisch vorgehende Taschendieb-Banden auf Rolltreppen erkannt werden sollen. Natürlich ist auch der Standard "herrenloser Koffer" mit von der Partie, der in all seiner Herrenlosigkeit ein Sprengsatz sein könnte.

Weit weg von Berlin wird es an diesem Tag einen Urknall geben und zwar in Neuss, wenn dort die erste Arztpraxis online und im Dauerbetrieb mit der medizinischen telematischen Infrastruktur verbunden wird. Erstaunt können wir schon vorab lesen, dass der Arzt die Sache ganz entspannt betrachtet, obwohl es in der Testphase nicht sonderlich gut lief. "Zu schaffen macht ihm allerdings, dass das Kartenlesegerät im laufenden Praxisbetrieb abstürzen kann und die Systeme neu hochgefahren werden müssen. 'Das passiert einmal im Monat', weiß er aus der Testphase." Vielleicht bringt die hinter dem System werkelnde Truppe der Gematik eine Uptime-Anzeige für die Wartezimmer in Arztpraxen heraus, natürlich nach allen Schnickschnack-Standards vom BSI zertifiziert. Umso höher steigt nach dem Anschluss die Freude der Ärzte auf die kommende elektronische Patientenakte, die IBM mit der TK entwickelt oder die von Telekom und AOK. Wenn man diese Akten nur 60 Sekunden lang ansehen kann, ehe der Logout erfolgt, gibt es sogar eine kreative Lösung, allerdings ohne Chance auf Zertifizierung. Das kann vielleicht der erste niedersächsische Digitalgipfel erörtern, der umme Ecke im schönen Hannover stattfindet.

Gleich am Tag nach dem Urknall will der Bitkom auf seinem eigenen Gipfeltreffen namens Hub.Berlin die Digitalisierung in ihrer ganzen Größe, Schönheit und Dynamik zeigen. Denn die Digitalisierung wartet nicht auf Deutschland und seine Walversprechen. Sie geht unbeirrt ihren Gang, genau wie der Dax, der einfach ein kleines Plus ins Wochenende mitnimmt oder wie die Märkte, die nach dem Black Friday seelig sind. Insofern ist es schon ein kurioses Signal, wenn ausgerechnet der stramm humanistische Marxist Gregor Gysi auf dem Hub.Berlin über die "Macht der Algorithmen" spricht, während selbige für das Ende des Politischen sorgen, wie es das regierungsnahe Fraunhofer Fokus und das ÖfIT dieser Tage erklärt hat.

Ansonsten geht es munter weiter. Drölfzig Programme sammeln Daten über Daten, die in einer Black Box verarbeitet werden, in der eine Black Box steckt in der eine Black Box steckt usw. usf und das seit 50 Jahren. Niemand blickt durch, so verfickt ist das eingeschädelt. (jk)