34C3: Predictive Policing führt zu Sippenhaft und hebelt die Unschuldsvermutung aus

Aktivisten von Privacy International kritisieren die Datensammelwut der Polizei, die verstärkt unkontrolliert Informationen etwa aus Mobiltelefonen oder sozialen Medien abzweige und damit auch Straftaten vorhersagen wolle.

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34C3: Predictive Policing führt zu Sippenhaft und hebelt die Unschuldsvermutung aus

Millie Wood (links) und Eva Blum-Dumontet von Privacy International auf dem 34. Chaos Communication Congress in Leipzig

(Bild: CC by 4.0 34C3 media.ccc.de)

Lesezeit: 6 Min.

Strafverfolger rufen ständig nach der Vorratsdatenspeicherung in möglichst vielen Bereichen, dabei haben sie längst Mittel und Wege gefunden, um in der vernetzten Welt weitgehend unkontrolliert und ohne rechtliche Schutzmaßnahmen an ungeahnt große Informationsberge zu kommen. Dazu gehöre zum einen die Datenextraktion aus Mobilgeräten wie Smartphones, Tablets oder Laptops, führten Aktivisten von Privacy International (PI) auf dem 34. Chaos Communication Congress (34C3) in Leipzig am Freitag aus. Der zweite Ansatz sei "Socmint" (Social Media Intelligence), also die Auswertung von Nutzerdaten aus sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter. Parallel verbreiteten sich rasant Techniken fürs "Predictive Policing", mit denen auf Basis von möglichst vielen Daten Straftaten oder Tatorte vorhergesagt werden sollten.

Beim Predictive Policing werden zum Teil recht zweifelhafte Datenquellen eingesetzt.

(Bild: CC by 4.0 34C3 media.ccc.de)

Rundum-Überwachung und "Minority Report" ließen bei diesen Formen datengetriebener Polizeiarbeit grüßen, warnte Eva Blum-Dumontet von der in London angesiedelten Bürgerrechtsorganisation. Dabei seien die Aussagekraft und die Effizienz solcher Instrumente alles andere als erwiesen, was jüngst auch eine deutsche Studie nahelegte. Ein internationaler Schlüsselakteur in diesem Bereich, die kalifornische Firma Predpol, setze bei ihrer Software etwa auf das "Hawkes-Verfahren". Dieses diene eigentlich der Erdbebenvorhersage und sei auf den sozialen Bereich nicht wirklich übertragbar. Die von Predpol genutzten Quellen schlössen neben offen verfügbaren Informationen alias "Open Source Intelligence" (Osint), zu denen Socmint gezählt werde, auch Zensus- und Wetterdaten sowie Mondphasen ein.

Die Notwendigkeit von Predictive Policing wird laut Blum-Dumontet gern mit dem Kostendruck begründet. Es sei schließlich günstiger, Daten zu sammeln, als von vornherein mehr Ordnungshüter auf die Straße zu schicken. In Europa laute das Mantra zudem, dass "nur" geografische "Kriminalitätshotspots" ausgemacht werden sollten. Es gehe also nicht um individuelle Täter, sondern um auffällige Regionen. In der Praxis laufe es vor allem in den USA aber längst anders. In Kansas City schließe der einschlägige Algorithmus im Rahmen der dortigen "No Violence Alliance" etwa Social-Media-Daten ein und generiere daraus Grafiken selbst mit entfernten Kontaktpersonen. Schlage das Programm an, lade die lokale Polizei Betroffene vor und warne sie, dass im Tatfall ähnlich wie früher bei der Sippenhaft "alle aus dem Netzwerk" festgenommen würden.

Das Chicago Police Department führt laut der einstigen Arte-Redakteurin ferner einen Index mit rund 400 "Gefährdern". Blum-Dumontet meinte, dass da "jeder draufstehen könnte, wenn sein Nachbar ein verurteilter Straftäter ist". Die Unschuldsvermutung, die eine Grundsäule der Demokratie sei, werde damit ausgehebelt. Vielfach dokumentiert sei auch, dass schon die Entwickler solcher Programme voreingenommen seien. Dies spiegele sich dann in den Ergebnissen wider, da oft etwa Schwarze, Muslime, Aktivisten oder Arme beziehungsweise deren Wohngegenden diskriminiert würden.

Smart Cities bezeichnete die Beobachterin als weiteren Mosaikstein für die datenhungrige Polizei. Firmen wie IBM, Oracle oder Microsoft richteten entsprechende Initiativen von vornherein im Hinblick auf die Bedürfnisse der Ermittler aus und bauten für diese spezielle Plattformen auf. In Brasilien seien im Vorfeld der Olympischen Spiele etwa Kontrollräume für die Videoüberwachung unter diesem Aufhänger errichtet worden, ähnlich laufe in Pakistan das "Safe City Project" ab.

Beim Anzapfen von sozialen Medien wandeln die Ermittler laut der Expertin auf einem schmalen Grat zwischen dem öffentlichen und privaten Raum. Diese Methode sei trotz der Grauzone zum "ersten und einfachsten Schritt in einer Untersuchung" geworden, obwohl die Fahnder damit auch sensible Informationen etwa über die politische Gesinnung oder die sexuelle Orientierung erlangen könnten. Marketingfirmen mit speziellen Zugangsprivilegien lüden sich Social-Media-Daten parallel im großen Stil aggregiert herunter und gäben diese teils ebenfalls an die Polizei weiter. Hier mangele an vielen Stellen an angemessenen Schutzbestimmungen.

Gleiches treffe auch auf die Datenauslese insbesondere aus Mobiltelefonen zu, hieb die PI-Anwältin Millie Wood in die gleiche Kerbe. Dabei landeten nicht nur alle Fotos oder Nachrichten auf unbestimmte Zeit in großen Polizei-Datenbanken. Mit einfach bedienbaren Werkzeugen von Herstellern wie Cellebrite, MSAB oder Radio Tactics flössen auch Geräte- und Systeminfos, Verbindungs- und Standortdaten oder Angaben zu genutzten WLAN-Zugangspunkten mit ein. Nicht sicher vor den Ermittlern seien selbst gelöschte Daten, Cloud-Speicher sowie für normale Nutzer unzugängliche Partitionen des inspizierten Handys.

Die Fahnder haben Wood zufolge ihr Augenmerk auch auf vernetzte Objekte wie Infotainment-Systeme in Autos oder Smart-TVs im Heimbereich gelegt. Die Londoner Metropolitan Police etwa sehe das Internet der Dinge als Tatort der Zukunft an und schwärme von Werkzeugen, mit denen sie dort künftig direkt Mikrochips analysieren und Daten auslesen könne. Das britische Innenministerium habe in diesem Sinne erklärt, dass Polizeibeamte für derlei Untersuchungen speziell trainiert werden sollten. Ob entsprechende Fähigkeiten bereits vorhanden seien und genutzt würden, habe PI über Informationsfreiheitsanfragen von sämtlichen britischen Polizeiämtern wissen wollen. Diese hätten konkrete Auskünfte zu diesem Thema aber verweigert, sodass die Organisation nachbohren müsse.

Herausgekommen sei, dass 93 Prozent der Polizeikräfte auf der Insel Daten von digitalen Geräten extrahierten und dieses Instrument zu einer Standardmaßnahme im Kampf gegen Alltagskriminalität geworden sei, berichtete die Juristin. Die Gesetze, auf die sich die Ermittler dabei stützten, seien aber über 30 Jahre alt und auf Durchsuchungen von Häusern und Personen ausgerichtet. Wood befürchtet, dass mit der Methode immer mehr Individuen aus der Masse herausgelöst werden, was die Versammlungs- und Meinungsfreiheit bedrohe. Nötig sei es daher, gegen einschlägige Operationen nicht nur gegebenenfalls gerichtlich vorzugehen, sondern auch die Öffentlichkeit und das Parlament davon zu überzeugen, dass der Rechtsrahmen reformiert werden müsse. (hos)