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Was war. Was wird. Zum Jahresende mit einem Blick zurück im Zorn & Musik für den Mut nach vorn

"In der Musik erklingt der Mensch, der erst noch wird." Gibt es dem was hinzuzufügen? Hal Faber meint: Ja! Und wenn der Rückblick auf ein seltsames Jahr melancholisch stimmt, so ist der Optimismus und die Hoffnung, es könne besser werden, doch nicht weit.

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Kopf, Struktur, Zukunft

Da fehlt doch was... Oder nicht? Manchmal ist die Zukunft so transparent, dass man nichts sieht.

(Bild: Reimund Bertrams, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Zum Jahresende mit etwas größerem Blick zurück. Und hoffentlich etwas Mut für den Blick nach vorne..

Große Kugel, Berlin-Style

*** Das Jahr 2017 geht zu Ende, und bevor das neue Jahr als schwer zu berechnendes 2018 mit einer großen Feinstaubemission begrüßt wird, ist es Zeit für einen Rückblick und einen nachdenklichen Ausblick. Da wäre zuerst der Blick in die Statistik mit der Erkenntnis, dass Geldverdienen durch Geldschöpfung zugriffsmäßig der Favorit der Heise-Leser geworden ist. Fehlt nur noch die Anleitung zur hohen Schule der Geldwäsche. So gehen uns Journalisten die Themen nie aus und das Geld auch nicht. Wobei auch diese Geldbastelanleitung nicht an die Zugriffszahlen heranreicht, mit denen der Anwalt Freiherr von Gravenreuth in nunmehr 21 Jahren als Ewigerster eins!!elf durch die Zugriffszahlen der Heise-Leser ein apartes Denkmal bekommen hat. Ja, wenn dann Opa vom Krieg erzählt, beginnt das dann so: "Weißt du noch, wie der Günni im Forum auftauchte und...." Geschenkt, geschenkt.

*** Nun sagen Zugriffszahlen nicht alles. Es gibt auch Zugriffs-Enttäuschungen. Lest das, Ihr Spacken! Nein, so unhöflich bin nicht mal ich, auch wenn es manchmal frustrierend ist, wie wichtige Geschichten und Nachrichten im sich überschlagenden Strom des Netzes untergehen können. Gerade ist ja in Leipzig ein schicker Hackerkongress zu Ende gegangen, mit einem Jahresrückblück, auf dem Vorstandshackerin Constanze Kurz über den amtierenden, geschäftsführenden Justizminister Heiko Maas giftete und ihn als größten anzunehmenden Unfall darstellte. Das böse Urteil verband sie mit der innigen Hoffnung, dass dieser SPD-Politiker im Jahre 2018 nicht in der nächsten Regierung weiter Schaden an der Demokratie anrichten kann. Das von Maas und seinen Juristen durchgedrückte Netzwerkdurchsetzungsgesetz mit dem Anfang vom Ende der Anonymität (nur 206.119 Zugriffe) bezeichnete Kurz als schlimmsten von ihr erlebten "Disconnect in der politischen Kultur Deutschlands". Zu solchen Ergebnissen kommen nicht nur Hacker, sondern auch ganz normale IT-Kaufleute, die mit ihren Produkten Geld machen wollen: Man lese nur den Bitkom, der in seinem Ausblick auf das kommende Jahr treffend schreibt, dass das Jahr mit der Umsetzung eines verfassungswidrigen Gesetzes beginnt.

*** Bekanntlich kam es noch schlimmer. In einer staubtrockenen Paragraphensammlung, die das Justizministerium als kaum lesbares Diff verteilte, verbarg sich "eines der schlimmsten Vorkommnisse in dieser Demokratie", wie es Vorstandshacker Frank Rieger in Leipzig formulierte. Die Befugnis, den Staatstrojaner bei der Verfolgung von gewöhnlichen Straftaten (auch nur 235.778 Zugriffe) wie Computerbetrug, Hehlerei oder der missbräuchlichen Asylantragsstellung einsetzen zu dürfen, ist eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates. Was ursprünglich nur zur Verfolgung schwerster Straftaten und terroristischer Bedrohungen konzipiert wurde, wird so zum Alltagsinstrument von Polizei, Zoll und Staatsanwälten. Der Schutz der Privatsphäre löst sich auf wie Wasser in H2O und das vom Bundesverfassungsgericht so definierte Grundrecht auf "Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme" wird zur Luftnummer. Ergänzt man diese Unglücksnachricht mit den vielen Berichten über die neue Schnüffelbehörde ZITIS in diesem Jahr, wo bald mehr als 200 Programmierer diese Staatstrojaner im großem Stil bereitstellen sollen, so sieht man, wie die Sicherheitsbehörden über die Schnur hauen. Ob dieser Überwachungswahnsinn vom erwähnten Verfassungsgericht komplett einkassiert wird, ist eine der Fragen, die wir nach 2018 hinüber tragen. Und über die dieser kleine Ticker aus der norddeutschen Tiefebene berichten wird, auch wenn's nicht zu Meldungen mit den meisten Zugriffen führt.

*** Und sonst so? Bekanntlich hat die Bundesnetzagentur die Verpflichtung der Provider zur Vorratsdatenspeicherung ausgesetzt (121.604 Zugriffchen). Seitdem reißen die Klagen der Sicherheitsbehörden nicht ab, dass man nichts mehr ermitteln könne. Besonders drastisch drohte BKA-Präsident Holger Münch in seiner Rede auf der Herbsttagung seiner Behörde: "Allein im vergangenen Jahr konnten wir in rund 8000 Fällen von Kinderpornografie im Internet nicht weiter ermitteln, nicht weiter handeln, weil wir in Deutschland nach wie vor keine funktionierende Vorratsdatenspeicherung haben." Diese 8000 Fälle müssen Deutschland betreffen, denn anderswo werden Daten auf Vorrat gespeichert. Es gibt sogar Ermittlungserfolge, auch in Deutschland, auch mit den Fahndungsmethoden des BKA. Aber 8000 Fälle, das soll wiegen, das soll jeden Menschen weichklopfen, die anlasslose Datenspeicherung zu akzeptieren.

*** Doch der Trübsal ist genug geblasen, Hilfe sei nun eingeleitet. Dort, wo die nackten Zahlen enden, erklingen leise Töne und laute Töne, träumt sich Musik von einer Zukunft, die noch nicht ist. "In der Musik erklingt der Mensch, der erst noch wird", schrieb Ernst Bloch im "Prinzip Hoffnung". Was passt besser als der Blick auf die Musik von 2017, die uns in dieser Knallnacht und weiteren Nächten in das Jahr 2018 hinein begleitet? Klar, es gab Neues von The XX, Kendrick Lamar legte mit "Damn." endlich nach, von Miles Mosley kam mit "Uprising" mehr aus dem Umfeld des West Coast Get Down (Kamasi Washington, Ronald Brunner Jr., Cameron Graves, Thundercat seien als weitere Musiker mit Releases aus dem Kollektiv genannt). Noch mehr? Ich habe bestimmt einiges vergessen und einiges übersehen, vielleicht haben die geneigten Leser ja noch einige Empfehlungen aus dem Jahrgang 2017.

*** Insgesamt aber entwickelte sich mir 2017 zu einem Jahr der Erinnerungen. Ich zähle dazu auch mal Van Morrison, der 2017 gleich zwei neue Alben herrausgebracht hat: Blues und Jazz-Standards, Alterswerke, die mit besonderem Laid Back aufwarten. Erinnerungen aber auch etwa mit John Coltrane. "Chasing Trane" auf Netflix ist eine wunderbare Dokumentation, die auch denjenigen, die Coltranes Musik zu verstehen meinen, beim Versuch, genau diese Musik und den Menschen dahinter zu erklären, noch mehr Verständnis bringt. Schwach ist allerdings, dass es in dem Film fast erscheinen mag, als habe Coltrane nach "A Love Supreme" aufgehört, neue Musik zu machen. Hängt vielleicht auch damit zusammen, dass unter anderem Wynton Marsalis seine Statements abgibt, der bekanntermaßen so gar nichts von freier Improvisation und dem Weg Coltranes nach "Meditations" hält, Pharao Sanders dagegen in diesem Teil des Films eher zu kurz kommt. Also, zumindest im Film, kein "Ascenion"; kein "Peace on Earth" von der letzten Tour, die durch Japan führte (die dagegen mit japanischen Super-Fans abgehandelt wird); kein "Olatunji Concert", von dem es heißt, man könne es vielleicht nur einmal im Leben anhören, man müsse es aber mindestens einmal im Leben angehört haben, um endgültig zu verstehen, warum alle Musik nach John Coltrane eine andere war als vor John Coltrane. So sind denn die fehlenden Stücke in "Chasing Trane" auch als Empfehlung zu verstehen. Und als Aufforderung, sich an Neues zu wagen.

*** Und wo wir beim Neuen sind, auf das uns die Erinnerung vorbereitet: Was in Europa so alles möglich ist, zeigt überraschenderweise auch die musikalische Erinnerung. Denn Europa ist cool. Wieder, hoffentlich, nicht nur mit Herrn Macron in Frankreich. Und Europa war auch schon mal cool, so richtig, musikalisch, und nicht nur dort mit Aufbruchstimmung. Da hat mein Redakteur doch Einiges ausgegraben, was nicht allein seiner Europabegeisterung geschuldet ist: In den 50er und 60er Jahren definierten europäische Jazz-Musiker in den verschiedensten Konstellationen mit, was Cool Jazz war. Und das coole Europa sorgte dafür, dass sich viele amerikanische Jazz-Musiker auf dem "alten" Kontinent weitaus wohler fühlten als in der "neuen" Welt. Oscar Pettiford, der leider viel zu sehr in Vergessenheit geratene Ausnahmebassist ist ein Beispiel. Vielen Musikern (und anderen Künstlern, by the way, ging es 2017 mit der neuen und alten Welt nicht viel anders. Was Cool Europa in der Musik bedeutete, das zeigen viele Releases des Labels Sonorama, dem dafür nicht genug gedankt werden mag. Der Sampler "Cool Europa" und die beiden Volumes der Kompilation "Now's the time" (mit dem Untertitel "Deep German Jazz Grooves" aus den Jahren 1956 bis 1969) drehten in meiner 2017-Playlist eine Wiederholung nach der anderen, 2018 wird das kaum anders sein.

*** Überhaupt. Es gab da auch noch meine Wiederentdeckung des Jahres: Peter Hammill. Unverkennbar als Sänger, mit seiner ausgeprägten Stimme und Artikulation, Mastermind von Van der Graaf Generator. Und als Solokünstler eines der Bindeglieder zwischen ArtRock und Punk, mit "Nadir's Big Chance" sogar ganz ausdrücklich von John Lydon als solches angepriesen. Eine Platte, die in einigen Elementen, in Songstruktur und Melodieführung auf The Clash verweist, im Einsatz von Saxophon und Stimme sowohl auf Van der Graaf Generator als auch auf X-Ray Spex. Ich hege lange schon den Verdacht, dass ArtRock und Punk nur zwei Seiten derselben Medaille sind, der Hoffnung, in den 70ern endlich mal von diesem Hippie-Gedudel und endlosen Gitarren-Gegniddel wegzukommen. Wie auch immer: Peter Hammill ist in allen seinen Facetten hörenswert. Das kann man, um eine erste Empfehlung für 2018 auszusprechen, am 26. und 27. Mai im Berliner Quasimodo mal wieder live erleben, davor ist er auch in Nürnberg und Dortmund.

*** So ausgestattet, kann es dann langsam wirklich ans neue Jahr gehen:
"Da vieles fiel, fing Zuversicht mich an.
Die Zukunft gebe, dass ich darf.
Ich kann.
"
Rainer Maria Rilke, Hausspruch für Clara Westhoff-Rilke; hier zitiert nach Volker Weidermann, Träumer, Als die Dichter die Macht übernahmen – ein sehr lesenswertes Buch über die Münchener Räterepublik, das zeigt, was alles möglich ist. Hier, in Deutschland, mitten in Europa. Im Guten wie im Entsetzlichen.

Gut gebrüllt Löwe. Auf ins nächste Jahr.

(Bild: Alexandra / München, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

Was 2018 sicher kommen wird, ist ein Chaos Computer Club, der offensiver gesellschaftliche Veränderungen angeht und dieses IT-Mimimi nicht länger mitmacht. Zu finden ist es im erwähnten Jahresrückblick, in dem Vorstandshacker Linus Neumann donnerte: "Wir als Club funktionieren nicht im Sinne von einem Ehrenamt, dass wir da den Dreck wegkehren, den andere machen." Nicht immer nur hinterherfegen, sondern in die Offensive gehen, das könnte auch in anderen Bereichen ein probates Motto sein. Denn wenn man sich zu Gemüte führt, was die IT-Firmen so prognostizieren und ankündigen, so könnte sich prompt wieder schlechte Laune einstellen, noch vor der großen Knallerei.

Man nehme nur die Prognosen von Dell für 2018. Es soll das Jahr sein, in dem sich ganz im Sinne des Transhumanismus der vorigen Wochenschau Mensch und Maschine näher kommen werden. Unter Punkt drei steht da, etwas ungelenk formuliert: "AR-Headsets werden zur gängigen Kopfbedeckung." Gut, es gibt Branchen, in denen die Augmented Reality Sinn macht. Aber gängige Kopfbedeckung? So schwurbelt es sich zum schönen Ende hin und dann, tadamm: "Künftig wird AR der Standardweg sein, um die Effizienz von Mitarbeitern zu maximieren und die 'Schwarmintelligenz' der Belegschaft zu nutzen." Vorbei die Zeiten, wenn ein starker Arm was wollte, heute zählt der Schwarm. Und hach, diese Sache mit den Vorurteilen ist auch passé, wir werden nicht nur eine Super-Intelligenz bekommen, sondern im Zeichen der neuen Super-Objektivität urteilen : "Der 'Bias Check' wird die neue Rechtschreibprüfung. Im Laufe des nächsten Jahrzehnts wird Technik wie KI und Virtual Reality (VR) es Verantwortlichen ermöglichen, Informationen ohne Vorurteile zu bewerten und Entscheidungen völlig unvoreingenommen zu treffen."

Ohne Vorurteile und Misstrauen sollte man sich auch gegenüber all den Dingen verhalten, die sich partout mit dem Internet verbinden sollen. Damit es nicht an allen Ecken und Enden cybert und gegencybert, sollte man vorurteilslos immer die Auto-Update-Funktion aktivieren. Dann kann absolut nichts schiefgehen. Das alles sind Ratschläge großer IT-Firmen, die es gut meinen und unser Geld wollen. Geben wir ihnen den Lachs im Zweifel. Was können vereinzelte Journalisten schon prognostizieren, wenn professionelle Glaskugeln teurer als Glasperlen sind? Ich versuche es mal zum guten Schluss: 2018 wird das Jahr, in dem jeder von uns in seinen Dokumenten wühlt und sucht, seit wann er einen Vertrag mit diesem oder jenem Provider für Telefon, Internet, DSL, Mobilfunk usw. geschlossen hat. Wer keine vollständigen Angaben vorweisen kann, wird in diesem unseren Land als Verdächtiger behandelt werden können, so die Bundesnetzagentur. Diese Richtlinie tritt, äh, meiner Kenntnis nach, öh, sofort in Kraft, am 1.1.2018.

Kleine Glaskugel, Hacker-Style

(jk)