Ethik: Darf ich das Erbgut meiner Kinder entschlüsseln lassen?

Als das menschliche Genom 2001 sequenziert war, galt das als Sensation. Inzwischen ist die Erbgutentschlüsselung fast eine Routineangelegenheit. Eltern stehen vor schwierigen Entscheidungen.

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  • Inge Wünnenberg
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Die Technik ist weithin verfügbar und kostet mittlerweile meist weniger als 1000 Euro. Viele private Unternehmen bieten einen Gentest sogar als Service an. Nach einigem Hin und Her erhielt das Biotech-Unternehmen 23andMe in diesem April von der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA die Erlaubnis, seine Kunden über Krankheitsrisiken zu informieren. Zu diesen zehn verschiedenen genetisch bedingten Leiden gehören Alzheimer, Parkinson oder auch Blutgerinnungsstörungen.

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Inzwischen hat man in den Vereinigten Staaten und China aber auch junge Eltern als Zielgruppe entdeckt. Das Bostoner Unternehmen Veritas Genetics bietet für eine Gebühr von 1500 Dollar an, das komplette Genom Neugeborener zu entschlüsseln. Die Eltern erhalten Hinweise auf mehr als 950 wichtige Krankheitsrisiken sowie 200 Gene im Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Medikamenten. Auch in Deutschland geht die Entwicklung in diese Richtung. So wird zum Beispiel darüber nachgedacht, das Neugeborenen-Screening noch durch Gentests zu erweitern.

Eltern stehen damit vor einer schweren Entscheidung: Sollen sie ihr Kind testen lassen, um möglicherweise gefährliche Erbleiden früh zu entdecken? Oder geben sie ihrem Kind dadurch ein Wissen mit, das mehr Bürde als Nutzen ist?

Schließlich sind längst nicht alle Erbleiden so gut therapierbar wie die Phenylketonurie. Diese Stoffwechselerkrankung kann bei Kindern schwere geistige Beeinträchtigungen auslösen, lässt sich aber durch eine Diät gut behandeln. Zu einem ähnlich positiven Beispiel soll sich nun auch die spinale Muskelatrophie entwickeln. Die Muskelschwäche führt bisher zu einem frühen Tod. Seit Anfang des Jahres ist jedoch das Präparat Nusinersen zur Behandlung in Deutschland zugelassen. Nun hoffen Ärzte, dass die obligatorische Neugeborenenuntersuchung künftig noch um einen Gentest auf dieses Leiden erweitert wird.

Andere Erbkrankheiten spielen ohnehin erst später im Leben eine Rolle. Die Mutter könnte zum Beispiel Trägerin der BRCA1-Mutation sein, bei der rund 70 von 100 Betroffenen in ihrem Leben an Brustkrebs erkranken werden. Die derzeit einzig wirkungsvolle Therapie ist, beide Brüste prophylaktisch zu entfernen. Das Leiden tritt jedoch erst etwa ab dem 30. Lebensjahr auf. Was also bringt der Test im Kindesalter? Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass in 20 Jahren, wenn das Mädchen zur Frau geworden ist,

Alternativen zur radikalen Operation existieren. Eine weitere, in Deutschland relativ häufige genetische Krankheit ist die Hämochromatose, die eine erhöhte Ablagerung von Eisen bewirkt. Auch sie bedroht Menschen in der Regel erst nach dem 40. Lebensjahr. Wieder andere Leiden dagegen bessern sich überhaupt nicht. Bei der Huntington-Krankheit gibt es zum Beispiel keine Therapie. Zwar treten die Symptome meist nicht vor dem 40. Lebensjahr auf. Aber die Erkrankung zerstört Teile des Gehirns – oft mit schweren Verläufen, die zum Tod führen.

Das Wissen um vererbte Gesundheitsgefahren, die im eigenen oder im Körper des Kindes schlummern, macht das Leben nicht unbedingt einfacher. Deshalb entscheiden sich viele Menschen auch bewusst dagegen, etwas darüber zu erfahren. Der Molekularbiologe James Watson zum Beispiel, einer der Entdecker der Doppelhelix, ließ zwar im Jahr 2008 sein Genom sequenzieren. Aber nur unter der Bedingung, dass die für Alzheimer verantwortliche Stelle ausgespart blieb.

Auch das kürzlich erschienene Buch "Das Gen" von Pulitzerpreisträger und Arzt Siddhartha Mukherjee dreht sich in vielen Passagen um die Schizophrenie, die es seit mehreren Generationen in seiner Familie gibt. Der Bestsellerautor hat sich oft gefragt, ob er sein Genom und das ausgewählter Familienangehöriger sequenzieren lassen soll. Aber nach wie vor fehlt "die Identifizierung der meisten Genvarianten oder Variantenkombinationen, die das Krankheitsrisiko erhöhen", schreibt er in dem Band. Er geht aber davon aus, dass diese Rätsel in einigen Jahren gelöst sind – und diese Aussicht belastet den Mediziner schon jetzt.

TR 10/2017

(Bild: 

Technology Review 10/2017

)

Dieser Artikel stammt aus der Oktober-Ausgabe von Technology Review. Das Heft war ab dem 14. September 2017 im Handel und ist im heise shop erhältlich.

Eine vollständige Analyse des Erbguts ergibt für die Politologin Barbara Prainsack vom Londoner King's College deshalb nur bei kranken Kindern Sinn: "Da ist es den Aufwand wert, wenn ich einer Diagnose oder Therapie näher komme." Eltern von gesunden Kindern rät das Mitglied der österreichischen Bioethikkommission von diesem Schritt ab. "Sie handeln sich eventuell Diagnosen ein, die zu Lebzeiten niemals Probleme bereiten werden."

Zuverlässige Voraussagen rein aus dem Erbgut sind immer noch selten. Sie setzen ein Wissen um die Korrelation von Genvarianten und Gesundheitsrisiken voraus – das in vielen Fällen schlicht noch nicht existiert. Es könnte sogar sein, dass eine Erbgutkonstellationen das Risiko für eine Krankheit erhöht, eine andere aber wiederum verhindert, dass sie wirklich ausbricht. "Da müssen wir noch viele Jahre und vielleicht auch Jahrzehnte Sequenzdaten von unterschiedlichen Populationen sammeln und auch das Zusammenspiel zwischen DNA und der Ausprägung von Krankheiten studieren", sagt die Sozialwissenschaftlerin.

(inwu)