Ethik: Darf ich die Dienste der Gig Economy nutzen?

Die Internet-Job-Wirtschaft schafft neuartige Arbeitsplätze, doch der Preis dafür ist womöglich zu hoch. Eine Betrachtung.

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Inhaltsverzeichnis

Als meine Mutter zu alt wurde, um die Wohnung selbst in Ordnung zu halten, bestellten wir eine Putzhilfe. Voraus gingen lange, erbitterte Diskussionen, denn die Notwendigkeit einer Putzhilfe war für sie nicht nur ein sichtbares Zeichen ihres körperlichen Verfalls. Es war meiner Mutter schlichtweg peinlich, ihren Dreck von anderen Leuten wegräumen zu lassen. Und so ließ sie es sich nicht nehmen, der Frau bei jedem Putzeinsatz eine Tasse Kaffee zu kochen – liebevoll von Hand aufgebrüht.

Was im Rückblick wie eine persönliche Marotte wirkt, offenbart einen tiefen gesellschaftlichen Wandel. Während persönliche Dienstleistungen wie Putzen, Chauffeurdienste oder Botengänge für die Nachkriegsgeneration noch Ausdruck einer klaren gesellschaftlichen Hierarchie waren – etwas für die feinen Leute –, sind sie heute von diesem Makel befreit. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Plattformen der Gig Economy: Uber, Helpster und wie sie alle heißen.

Auf den ersten Blick scheint die Gig Economy eine klassische Win-win-Situation zu schaffen: Auf der einen Seite oftmals schlecht ausgebildete Menschen, die auf diese Weise jederzeit leicht, transparent und legal einen Job bekommen. Auf der anderen Seite die Auftraggeber, die nicht mühsam nach geeigneten Kräften suchen und über Vertragsbedingungen und Bezahlungen diskutieren müssen.

TR 10/2017

(Bild: 

Technology Review 10/2017

)

Dieser Artikel stammt aus der Oktober-Ausgabe von Technology Review. Das Heft war ab dem 14. September 2017 im Handel und ist im heise shop erhältlich.

Auf den zweiten Blick haben Uber und Co. aus dem Stand ein neues digitales Heer von Tagelöhnern geschaffen. "50 Millionen digitale Arbeiter weltweit", gebe es mittlerweile, schätzt der Geograf Mark Graham, der das Phänomen Gig Economy für das Oxford Internet Institute erforscht. Neben den klassischen Dienstleistungsjobs sind das auch sogenannte "Clickworker", die etwa Fotos mit Stichwörtern versehen, Daten eingeben oder Texte übersetzen.

"Da immer mehr Menschen aus einkommensschwachen Ländern online gehen, stehen sie in einem harten individuellen Wettbewerb miteinander", sagt er. Die Arbeitsplätze der Plattformen seien daher oftmals gekennzeichnet durch "lange und unregelmäßige Arbeitszeiten, niedriges Einkommen und hohen Stress". Nur sehr wenige Plattformen würden existierende Regulierungen beachten, sagt Graham.

Tatsächlich argumentieren Plattformen wie Foodora oder Uber damit, dass sie ja keine Angestellten hätten, sondern eine Plattform für freie Selbstständige seien – für die Arbeitsschutzrechte nicht greifen. Ungeachtet dieses juristischen Streits würden die Plattformen langfristig das Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen untergraben, befürchtet Graham, "und zwar sowohl in Ländern mit niedrigem als auch mit hohem Einkommen".

Darf man die Angebote also annehmen? Das Dilemma ist offensichtlich: Der einzelne Gig-Arbeiter freut sich, aber gleichzeitig sinken die Chancen für alle auf faire Arbeitsbedingungen. Der Ökonomin Nora Stampfl, die mit ihrer Denkfabrik f/21 die Zukunft der Arbeit erforscht, sieht keinen Grund für einen Boykott. "Bestimmt ist die Kluft zu regulären Beschäftigungsverhältnissen in puncto Löhne und Arbeitsbedingungen ein Thema – aber deshalb die Dienste nicht zu nutzen, wem wäre damit geholfen?", fragt sie.

Ähnlich sieht das auch die Ethnologin Alex Rosenblat. Sie hat für das Data & Society Research Institute in New York Fahrer von Uber befragt und ist der Überzeugung: "Grundsätzlich hilft es aus Fahrerperspektive nicht direkt, wenn Verbraucher Plattformen boykottieren. Die Fahrer verlieren nur ihr Geschäft." Sie würden nur dann profitieren, wenn die Kunden andere Plattformen verstärkt nachfragen, die seriöser sind. Auch Mark Graham argumentiert in diese Richtung: "Wenn wir Fairtrade-Schokolade, Kaffee oder Gurken kaufen können, dann sollte es auch Suchmaschinen geben, auf denen man nach fairen Arbeitsbedingungen suchen kann", sagt er.

Hilft das aus dem moralischen Dilemma? Nicht wirklich. Der Soziologe Trebor Scholz von der New School in New York hatte einen radikaleren Vorschlag: Er plädiert dafür, dass die Beschäftigten einfach eigene Plattformen gründen, die sie als Kooperative betreiben. Eine Art Uber in der Hand der Fahrer zum Beispiel. Mit dem US-Anbieter Arcade City gibt es sogar schon einen Vorreiter. Ich bin sicher, diese Idee hätte meiner Mutter gefallen.

Update: Foodora legt Wert auf die Tatsache, dass das Unternehmen keine "Plattform für freie Selbstständige" ist. "Ohne unterzeichneten Arbeitsvertrag können Fahrer grundsätzlich nicht bei uns arbeiten, d.h. wir beschäftigen keinerlei Selbständige", heißt es in einer Erklärung des Unternehmens. "Alle Fahrer - ob Vollzeitfahrer, Midi- oder Minijobber bzw. Werkstudenten - sind mit Unterzeichnung ​der Arbeitsverträge und Stundenlöhnen zwischen 9 und 12 € automatisch durch die Beiträge zur Sozialversicherung und​ Lohnversteuerung sozial- als auch rentenversichert." Die Arbeitsbedingungen – insbesondere die algorithmische Erstellung des Schichtplans – haben in der Vergangenheit jedoch immer wieder zu erheblicher Kritik und zu Arbeitskampfmaßnahmen geführt. (wst)