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Was war. Was wird. Vom Unrecht des Vergessens und anderen deutschen Befindlichkeiten

Sie wollten vergessen, die rechtschaffenen Deutschen im Wirtschaftswunderland, und das ließen die 68er nicht zu, sagt Hal Faber 50 Jahre später. Nun sind die nächsten neuen Deutschen (wieder?) da und krakeelen zurück in die Zukunft.

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Was war. Was wird.

Die Temperaturen in Deutschland läuten die Freibadsaison ein. Doch erst einmal wollen die Regierenden herausfinden, wie sie regieren wollen.

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Habemus Coalitionem? Pah. Während der älteste und der jüngste Minister der neuesten großen Koalition munter Sprüche klopfen und zum Beispiel als Journalismus-Experten Kommentare abgeben, ist das, was Regierung genannt wird, komplett bemerkelt und benebelt. Bald fahren alle nach Meseberg, wo die Regierung im Gästehaus der Bundesregierung beratschlagt, wie das gehen soll mit dem Regieren. In diesem Vakuum hagelt es Manifeste, ganz so, als sei ein gewisser Martin Schulz Kanzler und vollauf damit beschäftigt, seine einstmals hochgelobte Digitalcharta in Digitalien umzusetzen. So gibt es die Erklärung 2018 und natürlich die passende Antwort 2018. Beide voller Schwallwörter aus der jeweiligen politisch korrekten Lagersprache. Wo ist denn bei deutlich rückläufigen BAMF-Zahlen diese "illegale Masseneinwanderung", die die ach so Guten um Broder herum mit "wachsender Besorgnis" sehen? Und was bitte bedeutet dieses "Wenden gegen jede Ausgrenzung"? "Jede Ausgrenzung", das ist von solcher Beliebigkeit, dass Protest sicher dort schon fällig wird, wo jemand knapp den Bus verpasst und ausgegrenzt wird.

*** Damit nicht genug: Während diese kleine Wochenschau geschrieben wird, sitzen Politiker einer Werte-Union zusammen und basteln am nächsten Blatt, an einem "konservativen Manifest" für den konservativen Aufbruch. Weg mit der Genderforschung, zurück zur traditionellen Familie, Ende der Energiewende und Wehrpflicht für alle, das sollen die wichtigsten Forderungen neben "weg mit Merkel" sein. Zurück in den Muff der 60er Jahre, bevor die gerade so gefeierte Studentenbewegung Deutschland auslüftete. Deutschland 2018: Das ist nicht das Land der Dichter und Denker, wie es Madame de Staël-Holstein rühmte, sondern das Land der Manifeste und Krautfindungs-Websites, auf denen man gefälligst unterzeichnen soll.

*** Nicht nur die Sonderseiten der tageszeitung sind dieser Tage voll mit Geschichten über "1968". Selbst die Fachgruppe Informatik- und Computergeschichte beschäftigt sich mit dem Einfluss der 1968er auf Informatik und Kybernetik und tut dies in München auf dem Vintage Computing Festival. Was war? Was bleibt?, fragt die Süddeutsche Zeitung und kommt zum Prinzip Hoffnung, dass die Enkel und Urenkel der 68er drauf und dran sind, Spießer wie Trump und Gauland nicht mehr auszuhalten. Manch ein neckisches Quiz soll das Wissen über die Tage prüfen, an denen drei Kugeln auf Rudi Dutschke abgefeuert wurden. Doch das, was vor 50 Jahren passierte, hatte seine ganz besondere Vorgeschichte.

*** Im Jahre 1964, kurz bevor es rummste in der deutschen Kiste, sendete der Hessische Rundfunk eine Reihe von Vorträgen zum Thema "Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker?", eine Frage die so unterschiedliche Denkedichter beantworteten wie Ernst Bloch und Arno Schmidt. Auf den Punkt brachte es Hermann Kesten:

"Die Deutschen ziehen den Wohlstand aller Poesie vor. Sie bitten alle Welt, dass man ihre Untaten vergebe, und sie selber vergessen sie. Darum lautet eine deutsche Maxime heute: Man muss vergeben und vergessen. Mit solchem Vorsatz wird man zum Erzfeind der Dichter und Denker, die nicht vergessen und keinen Fehler, keinen Irrtum vergeben dürfen, weder sich noch anderen. Das Gedächtnis und die Wahrheit sind unerlässlich für Dichter und Denker. Die meisten neuen Deutschen sind viel zu tüchtig, um zu dichten, viel zu konformistisch, um zu denken."

*** Ja, da wollten sie vergessen, die rechtschaffenen Deutschen im Wirtschaftswunderland, und die 68er ließen genau das nicht zu. Nun sind die nächsten neuen Deutschen (wieder?) da und krakeelen im besagten Hessen zurück in die Zukunft, während sie auf Pflastersteine beißen, zum Beweis ihrer urdeutschen Standhaftigkeit.

*** Besser als die Exekutive steht derzeit die Judikative in diesem unseren Lande da, die in Gestalt eines "Provinzgerichtes", des Oberlandesgerichtes Schleswig in der Causa Puidgemont ein bemerkenswertes Urteil ausgesprochen hat. Ausgerechnet auf der Grundlage einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes von 1983 zu den Auseinandersetzungen um die Startbahn West in Frankfurt am Main beurteilte es die angebliche Rebellion von Puidgemont. Damals sahen deutsche Behörden wie die spanische Regierung heute eine unerhörte "Rebellion" am Werke und konstruierte den Vorwurf der "Nötigung von Verfassungsorganen". Der frühere katalanische Regionalpräsident Carles Puidgemont ist gegen Kaution und Meldeauflagen entlassen worden, was ein wenig an Julian Assange erinnert, der sich im Jahre 2012 den Meldeauflagen entzog und in die Botschaft von Ecuador floh. Dort wurde ihm, der mittlerweile Bürger von Ecuador ist, der Internet-Zugang gesperrt, nachdem er die deutsche Polizei von 2018 mit der Gestapo von 1940 verglichen hatte. Damit verstieß er gegen die Auflage der ecuadorianischen Regierung, sich nicht in die innenen Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Angeblich sollen in der Botschaft sogar Jammer installiert worden sein, damit die Kommunikation per Smartphone unterbunden ist. Das behaupten Foristen, leider unter Berufung auf Russia Today. Dieser Medienkanal führt Puidgemont wie Assange als politische Gefangene und bezeichnet das – wie es Puidgemont selbst auch schon getan hat – als eine Schande für Europa. Diesen Fake gilt es auszuhalten.

Bald werden sie wieder verliehen, die Big Brother Awards, die nicht gerade begehrten Preise für das Wirken als Datenkrake, ob in der Arbeitswelt, in der Politik und in der Verwaltung. Diesmal findet die Gala im Bielefelder Stadttheater statt, ein gutes Stück vom kleinen Bunker Ulmenwall entfernt, in dem alles begann. Ganz nach dem Vorbild des Chaos Computer Clubs fordert Digitalcourage als Veranstalter der Preisverleihung die Dezentralisierung der Show, nicht zuletzt als Lösung, falls Bielefeld doch nicht existiert. Wie aus dem noch existierenden Bielefeld zu hören ist, drängeln sich die Kandidaten für die verschiedenen Kategorien, ausnahmsweise einmal ohne "Gesundheitsminister" Jens Spahn, der sonst überall der Erste, mindestens aber der Lauteste sein will. Dabei könnte das deutsche Gesundheitssystem mit seinen Datensammlungen so manchen preiswürdigen Kandidaten stellen.

Nachrichten über Facebook, BBA-Preisträger des Jahres 2011 sind in diesen Tagen nicht gerade Mangelware. Insofern ist der pennälerhafte Witz von Martin Perscheid keine Ausnahme oder doch, da er ja die Nippellöschung aufspießt. Doch die Löscherei hat noch ganz andere Aspekte parat: In diesen Tagen läuft die deutsche Dokumentation The Cleaners in den Kinos an, die das Leben der Löschbrigaden von Facebook und Google nicht in Berlin, sondern in Manila schildert. Auf den Philippinen arbeiten tiefgläubige Katholiken, die davon überzeugt sind, mit ihrer Löscharbeit die Welt von der "Sünde" freizuwaschen – und das auch noch für günstige 1 Dollar pro Stunde. 25.000 Löschungen pro Tag sollen geschafft werden, bei einer Fehlerquote von mehr als drei Prozent ist die Kündigung fällig, die Selbstmordrate traumatisierter Cleaner ist hoch. Mit der Doku werden Tücken des real existierenden Christentums besser erklärt als von erklärten Atheisten mit ganz anderen monotheistischen Wurzeln.

Ergebnis einer Google-Bildersuche nach "Sünde".

(anw)