Vibrationen stoppen gegen Übelkeit

Wenn autonome Autos zum Normalfall werden, dürfte das Problem der Reisekrankheit auf der Straße zunehmen. Ein Start-up arbeitet an einer Technologie, die das verhindern soll.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Erin Winick
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Vollständig autonome Autos könnten Ihre Fahrzeiten in den kommenden Jahren deutlich produktiver machen – denken Sie nur an all die Dinge, die Sie erledigen können, wenn Sie sich nicht aufs Fahren konzentrieren müssen. Allerdings funktioniert das nicht, wenn Sie sich die ganze Zeit übergeben müssen.

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Autonome Autos nähern sich der Nutzung durch Verbraucher und werden von Unternehmen wie Waymo von Google schon auf öffentlichen Straßen getestet. Und diese Autos dürften das Problem der Reisekrankheit verschärfen, das auftritt, wenn Augen und Innenohr eines Menschen widersprüchliche Signale senden: Der Ohr erkennt die Bewegung des Autos, aber das Auge sieht das unbewegte Umfeld des Innenraums.

Selbst Fahren hilft dabei, diesen Effekt abzumildern, weil es dazu beiträgt, ständig die äußeren Bewegungen zu beobachten; bei autonomen Autos aber wäre es vorbei mit dieser Hilfe. Wenn kein Fahrer mehr steuert, könnte es für die Insassen zudem schwieriger werden, die Bewegungen des Autos zu antizipieren, und wahrscheinlicher, dass Mitfahrer seitlich oder mit Blick nach hinten sitzen statt nach vorne – beides sind Faktoren, die Übelkeit begünstigen können.

Möglicherweise sind Sie schon im kleinen Umfang von der Reisekrankheit betroffen, ohne es zu wissen. Haben Sie sich schon einmal dösig gefühlt oder Kopf- oder Augenschmerzen gehabt, während sie im Auto saßen? Laut Jim Lackner, Physiologie-Professor an der Brandeis University, sind das oft Symptome einer leichten Reisekrankheit, und die könne schlimmer werden, wenn Autos auf die Straßen kommen, die uns ohne jede menschliche Hilfe herumfahren.

Ein Start-up namens ClearMotion sieht darin ein massives kommendes Problem und hat eine mögliche Lösung dafür: Technologie, mit der die Bewegungen des Autos, an denen Ihr Innenohr erkennt, dass Ihr Körper in Bewegung ist, unterdrückt werden.

Dafür nutzt das Unternehmen ein so genanntes Activalve, eine elektrohydraulische Vorrichtung, die an die Stoßdämpfer an allen vier Rädern montiert wird. Sie nimmt Fahrer- und Straßen-Daten vorweg, um Vibrationen zu stoppen, bevor sie beginnen. Weniger als fünf Millisekunden, nachdem sich die Räder zu bewegen beginnen, arbeiten die Vorrichtungen so zusammen, dass die Bewegung ausgeglichen wird; auf diese Weise werden die Vibrationen ausgefiltert, die Reisekrankheit auslösen, und die Fahrt wird viel sanfter.

Dies ist nicht der erste Versuch von Forschern, Übelkeit über die Bewegungen des Autos zu verhindern, doch die bisherigen Bemühungen konzentrierten sich auf Vibrationen niedriger Frequenz. ClearMotion gibt an, dass gegen Reisekrankheit sowohl hohe als auch niedrige Frequenzen verhindert werden müssen. Und das Activalve sei so konstruiert, dass das erreicht werde.

Die eigene Forschung scheint zu zeigen, dass das funktioniert. Im Jahr 2016 veröffentlichte das Unternehmen einen Fachaufsatz, laut dem sieben von neun Personen, die in seinem Kontrolltest ein gewisses Maß an Reisekrankheit erlebt hatten, bei aktivierter Vorrichtung wenig bis keine Übelkeit verspürten.

Ich wollte das System selbst ausprobieren, aber leider wird mir im Auto nicht schlecht. Zum Glück kenne ich jemanden, bei dem das so ist: Joyce Chen, Partner Relationship Manager bei der US-Ausgabe von Technology Review, die schon immer an Reisekrankheit leidet.

Derzeit funktioniert die Technologie von ClearMotion nur in einem Labor-Auto. Um sie auszuprobieren, fuhren Chen und ich also zum Büro des Unternehmens in Woburn im US-Bundesstaat Massachusetts. Dort setzten wir uns in einen normal aussehenden BMW 535xi, der die Bewegungen des Autos beim Befahren einer besonders heiklen Straße im Bundesstaat New Hampshire simuliert, mit oder ohne die Vibrationsfilter von ClearMotion. Chen und ich saßen abwechselnd auf dem Rücksitz, um einen technischen Aufsatz über – keine Überraschung – Reisekrankheit zu lesen.

Der Unterschied bei der Sanftheit der Fahrt war für uns beide sofort offensichtlich, und ich konnte sehen, dass sie sogar für Menschen wie mich noch angenehmer werden kann. Zwar spürte ich auch bei aktivierten Filtern noch ein paar Vibrationen, doch laut dem Mitgründer Zack Anderson hat ClearMotion nicht vor, das noch stark zu minimieren; offenbar seien den Passagieren leichte Vibrationen lieber als gar keine. ClearMotion muss lediglich dafür sorgen, dass sie sich nicht in dem Frequenzbereich abspielen, der Übelkeit hervorruft.

Als Chen und ich ein paar Minuten lang den ersten Kontrolltest machten, fühlte sie ein gewisses Unwohlsein, von dem sie erwartete, dass es mit der Zeit deutlich schlimmer werden würde. Beim zweiten Durchlauf mit der Technologie zur Geräusch-Auslöschung fühlte sie sich besser, aber nicht perfekt. „Ich würde es mich einiges kosten lassen, wenn sie alles schaffen, was sie versprechen“, sagte sie.

Die Technologie wird noch getestet, und ClearMotion verändert noch die Algorithmen, mit denen Übelkeit erregende Vibrationen erfasst und bekä,mpft werden. Bald jedoch will das Unternehmen damit in die Praxis gehen: Es arbeitet mit sechs Partnern daran, seine Vorrichtung an Fahrzeugen mehrerer Marken und Modelle zu testen.

Anderson erwartet, dass ClearMotion in einigen Jahren für die allgemeine Nutzung verfügbar sein wird. Das Unternehmen arbeitet zugleich daran, auch von Menschen gefahrene Autos angenehmer für den Magen zu machen. Das hat Sinn, denn bis wirklich ein autonomes Auto in der Nähe Ihrer Garage steht, könnte es noch eine Weile dauern.

(sma)