Die IT frisst ihre Kinder

Das IT-Zeitalter hat Indien groß gemacht. 30 Jahre lang war Outsourcing ein verlässlicher Wachstumsmotor. Warum zieht nun China vorbei?

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Samanth Subramanian
  • Michael Radunski

Zwei Tage nach seiner Beförderung rief die Personalabteilung bei K.S. Sunil Kumar an – und forderte ihn auf zu kündigen. Es war April, Kumar ging gerade in sein neuntes Berufsjahr bei Tech Mahindra, einem der größten IT-Service-Anbieter Indiens. Er arbeitete in der Entwicklungsabteilung, wo er Komponenten für Luft- und Raumfahrtunternehmen aus Nordamerika und Europa entwarf. Sie schickten ihm spezifische Anforderungen – Materialwünsche für ein Scharnier, den Belastungsgrad, den es aushalten soll, oder etwa Kostenvorgaben – und er führte sämtliche Anforderungen mithilfe einer Software zusammen. Manchmal verließ Kumar seinen Stützpunkt in Bangalore, um vor Ort bei den Kunden Aufgaben zu erledigen: in Montreal, Belfast oder Stockholm.

Kurz: Kumar war eine Art Fußsoldat in der großen Armee indischer Ingenieure, die über Jahre hinweg Arbeiten aus dem Westen für einen Bruchteil der Kosten übernahm. Sein lockiges Haar ist am Scheitel ausgedünnt und an den Schläfen grau meliert. Bei unserem Treffen trägt er ein verblasstes Shirt von Tommy Hilfiger, einen Rucksack und den Ausdruck dezenter Beklommenheit im Gesicht. Aufgewachsen ist er einige Hundert Kilometer entfernt von Bangalore in einem kleinen Dorf, in dem sein Vater einst an einem Handwebstuhl seidene Saris webte. 1995 zog Kumar im Alter von 15 Jahren nach Bangalore, um sich zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen. Später folgte der Universitätsabschluss dank eines Fernstudiums.

Bevor er im Sommer 2008 zu Tech Mahindra wechselte, hatte Kumar als Zeichner in einem Luft- und Raumfahrtunternehmen gearbeitet. Sein neuer Job eröffnete ihm ein völlig neues Leben, so wie es die IT-Industrie schon zuvor für viele andere Inder getan hatte, und bot ihm die Chance, seine Arbeitervergangenheit gegen eine Angestelltenzukunft einzutauschen. Kumar heiratete, das Paar bekam einen Sohn. Er nahm einen Kredit in Höhe von 47000 Dollar auf, um ein Haus zu kaufen, sodass seine Eltern und seine beiden Brüder, die ihm nach Bangalore gefolgt waren, bei ihm bleiben konnten. „Ich lebe ein Mittelklasseleben“, sagt Kumar.

Zum Zeitpunkt seiner Entlassung verdiente er knapp 17000 Dollar pro Jahr – für indische Verhältnisse ein solides Salär. Ungefähr zur selben Zeit verkündete Tech Mahindra einen Vorjahresgewinn von 419 Millionen Dollar bei einem Umsatz von 4,35 Milliarden Dollar. Mit IT-Arbeiten und den damit verbundenen Serviceleistungen erzielen indische Unternehmen jedes Jahr Rekordeinnahmen von bis zu 154 Milliarden Dollar, knapp vier Millionen Menschen sind in diesem Geschäftsbereich angestellt.

Doch die guten Zeiten könnten vorbei sein. Eine wahre Entlassungswelle rauscht über die indische IT-Branche hinweg. Bots, lernende Maschinen und Algorithmen machen einstige Fachkompetenzen überflüssig. Im Anschluss an seine Generalversammlung in diesem Sommer hat das an der Börse mit rund 33 Milliarden Euro bewertete Unternehmen Infosys angekündigt, dass 11000 seiner 200000 Angestellten dank der Automatisierung von repetitiven Arbeiten „befreit“ werden und sie in Zukunft anderswo im Unternehmen eingesetzt würden. Doch längst nicht alle können auf neue Tätigkeiten hoffen: Einer Untersuchung des Wirtschaftsmagazins „Mint“ zufolge werden Indiens sieben führende IT-Unternehmen dieses Jahr mindestens 56000 Angestellte entlassen. Die Wirtschaftsanalysten von HfS Research kamen bereits im vergangenen Jahr zu dem Schluss, dass die Automatisierung allein in Indien bis 2021 zu einem Nettoverlust von 480000 Jobs führen werde.

Dass künstliche Intelligenz Arbeitsplätze vernichtet, ist keine indische Eigenheit. Allerdings droht die Automatisierung dieses Land besonders hart zu treffen. Ein Großteil seiner Hochtechnologie besteht aus Routinearbeiten, die prädestiniert dafür sind, zukünftig von Computern übernommen zu werden. In einigen Fällen werden indische IT-Anbieter ihre Dienstleistungen automatisieren. In anderen Fällen werden westliche Unternehmen dies selbst übernehmen und zukünftig solche Arbeiten nicht mehr nach Indien auslagern.

(wst)