Wikimedia-Chefin Maher im Interview: "Vielleicht gibt es nur Platz für eine Organisation wie uns"

Katherine Maher ist seit knapp zwei Jahren Chefin der Wikimedia-Foundation und verantwortet damit auch Wikipedia. Mit heise online sprach sie über Zensur, Motivation und die Unausgewogenheit der Autoren-Community.

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Wikipedia-Interview !!!

Wikimedia-Chefin Katherine Maher

(Bild: VGrigas (WMF), CC BY-SA 3.0)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
Inhaltsverzeichnis

Katherine Maher ist seit Sommer 2016 offiziell Chefin der Wikimedia-Foundation und verantwortet damit auch die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Seit dem turbulenten Abgang ihrer Vorgängerin Lila Tretikov ist es Maher gelungen, die Lage zu beruhigen: Hatte das Projekt vor Jahren noch mit einem massiven Autorenschwund zu kämpfen, haben sich die Zahlen inzwischen wieder stabilisiert. Um das zu erreichen, hatte die Stiftung in den letzten Jahren viel in die Usability der Website investiert.

Dafür hat die Stiftung mit neuen Problemen zu kämpfen: Vor einem Jahr hatte ein türkisches Gericht beschlossen, dass Informationen über den Syrien-Krieg aus der Online-Enzyklopädie gelöscht werden sollten – als das Projekt ablehnte, wurde die Online-Enzyklopädie in dem Land komplett gesperrt.

Auch das Umfeld des Internets hat sich in den 17 Jahren seit Start der Wikipedia komplett geändert: Heute muss sich die Enzyklopädie in einer Welt behaupten, die soziale Netzwerken wie Facebook dominieren. Die Wikipedia reagierte auf die Veränderungen auf der einen Seite mit Anpassung. Die Wikimedia-Foundation implementierte ein Belohnungssystem, mit dem die Autoren mehr positive Rückmeldung für ihre freiwillige Arbeit bekommen.

Auf der anderen Seite will Wikipedia nichts an den Grundprinzipien ändern: faktisches Wissen für eine größtmögliche Anzahl von Nutzern bereitzustellen. Dabei kann das Projekt immer wieder Achtungserfolge vorweisen. Als Facebook und Google wegen Fake-News kritisiert wurden, banden beide Milliarden-Konzerne wie selbstverständlich Wikipedia-Informationen ein, um ihre Nutzern aus zu einer anerkannt neutralen Quelle zu informieren.

heise online sprach mit Katherine Maher am Rande der Konferenz re:publica, wo sie die Wikimedia-Foundation als Kontrapunkt eines durchweg kommerziellen Internets porträtierte.

heise online: Können sie sich vorstellen, was anders wäre, wenn die Wikipedia von Werbung finanziert würde?

Katherine Maher: Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Es ist für Projekte sehr wichtig, woher sie ihre Motivationen, ihre Anreize beziehen. Ich kenne keine einzige Wikipedia-Community, die es als ihre Aufgabe sehen würde, Umsätze für das Projekt oder die Firma dahinter zu machen. Unsere gemeinnützige Vision erlaubt es uns, dass Menschen bei uns zusammentreffen und diese einzigartige Kultur zu schaffen. Es gibt sicher einige werbefinanzierte Projekte, die versuchen, Wikipedia nachzubauen, wie zum Beispiel "Everipedia" – aber solche Versuche enden überwiegend nicht erfolgreich.

heise online: Derzeit scheint Everipedia aber sehr erfolgreich zu sein.

Maher: Es ist nicht wirklich klar, ob sie das tatsächlich sind. Sie haben den Content der Wikipedia genommen und versuchen nun eine Community aufzubauen, die sich um eine Blockchain dreht. Ich glaube wir müssen abwarten, wie sich das entwickelt.

Wikipedia: "In der Theorie ein totales Desaster".

(Bild: Torsten Kleinz / heise online)

heise online: Die Grundidee der Wikipedia ist: Jeder Mensch sollte beitragen können. Ist diese Idee noch aktuell oder ist es in Ordnung, wenn 90 Prozent der Wikipedia-Nutzer nur lesen und sonst nicht beitragen?

Maher: Unser Ziel sollte sein eine repräsentative Community zu schaffen. Bisher ist die Wikipedia-Community noch unausgewogen: überwiegend europäisch oder amerikanisch, überwiegend männlich, überwiegend weiß. Natürlich hat nicht jeder auf der Erde die Zeit oder die Mittel, an Wikipedia mitzuarbeiten. Aber die Autorengemeinschaft sollte die Vielfalt der Welt repräsentieren können, damit die Leser tatsächlich das in der Wikipedia wiederfinden, was sie wirklich brauchen.

heise online: Zum Beispiel?

Maher: Derzeit stammen zum Beispiel viele der Inhalte für unsere Leser in Ghana von Autoren in den Niederlanden. Zwar ist es toll, wenn Leute aus den Niederlanden Inhalte beitragen, aber auf Dauer ist es keine Lösung, da jemand in den Niederlanden nicht unbedingt wissen kann, was ein Leser in Ghana in seiner Sprache über seine eigene Lebenswirklichkeit nachlesen will. Deshalb wollen wir uns um eine bessere Repräsentativität der Autorenschaft kümmern.

heise online: Ihre Vorgängerin Sue Gardner hatte noch versucht, die Autoren-Communitys in Entwicklungsländern voranzubringen, indem sie Büros in Indien, in Afrika und in Brasilien gründen wollte.

Maher: Damals war ich noch nicht bei Wikimedia – aber nach meiner Kenntnis hat dies aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert. Wir waren ein wesentlich jüngeres Projekt – wir reden hier von einem Projekt von vor acht Jahren. Wir hatten noch nicht die globale Perspektive, die wir heute haben.

heise online: Wie äußert sich das?

Maher: Statt aus der Zentrale Wikimedia-Büros auf der ganzen Welt zu gründen, fragen wir uns heute: Wie können wir die bereits existierenden Communitys in diesen Ländern unterstützen? Welche Mittel können wir den Leuten bereitstellen, die bereits vor Ort die Arbeit von Wikipedianern organisieren? Welche anderen Organisationen und Communitys gibt es, mit denen wir zusammenarbeiten können – sei es aus dem Bereich von Open Data oder Organisationen, die kostenlose Lehrmaterialien bereitstellen. Wir haben nun Leute, die mit der Wikimedia-Foundation als regionale Koordinatoren zusammenarbeiten. Sie sprechen die Sprachen der Communitys und helfen ihnen dabei, ihre Bedürfnisse an die Wikimedia-Foundation zu artikulieren – und umgekehrt.

Der Erfolg: Wir haben nun eine engagierte Community in Nigeria, wo wir bisher noch keine hatten. Insbesondere Schul-Clubs spielen hier einen wichtigen Part. Auch das "Project Tiger" ist ein Erfolg, bei der die wichtigsten fehlenden Artikel in verschiedenen Sprachen ermittelt werden und Teilnehmer ermuntert werden, in einem Wettbewerb an den Artikeln mitzuarbeiten.

heise online: Und haben sich dadurch die Autorenzahlen in Afrika verbessert?

Maher: Ich habe grade keine aktuellen Zahlen, aber auf meinen Reisen sehe ich durchaus wichtige Entwicklungen. Als ich beispielsweise vergangenes Jahr in Ghana war, habe ich dort zum ersten Mal Repräsentanten aus Kamerun, der Elfenbeinküste, Nigeria und vielen nordafrikanischen Staaten getroffen. Bei einem Treffen in Tunesien in diesem Jahr nahmen zum ersten Mal Teilnehmer aus Mali, Tschad und Uganda teil – keines dieser Länder war vorher repräsentiert. Die Begeisterung ist enorm.

Katherine Maher mit heise-online-Autor Torsten Kleinz.

heise online: Ein anderer Ansatz, diesen Communitys zu helfen ist zum Beispiel das Projekt Wikidata. Mit der Funktion "Article Placeholder" kann aus den Daten ein Mini-Artikel zusammengestellt werden, der Wissenslücken zumindest provisorisch schließt, bis sich ein menschlicher Autor des Themas annimmt.

Maher: Über den Erfolg dieses Projekts weiß ich noch wenig – allerdings gibt es so viele Projekte in Wikipedia, dass man kaum den Überblick behalten kann. Was ich sagen kann ist, dass unser Artikel-Übersetzungstool ein Erfolg ist. Mit seiner Hilfe wurden bereits über 300.000 Artikel übersetzt. Sehr vielversprechend sind Projekte, bei denen einerseits identifiziert wird, welche Lücken in einzelnen Wikipedia-Ausgaben bestehen und dann der Community Hilfestellung leisten, diese Lücken zu schließen.

heise online: Manchmal können solche Hilfen aber auch die eigenständige Beteiligung ersticken.

Maher: In der Tat, hier bekommen wir unterschiedliche Rückmeldungen, wie wir die Motivation der Communitys erhöhen können. Der Designer Brandon Harris hatte zum Beispiel einmal vorgeschlagen, dass wir Tippfehler in die Artikel einbauen, um Autoren zu motivieren diese Fehler zu korrigieren. Wir führen viele Gespräche, wie man Menschen das Gefühl geben kann, dass ihre Beiträge in der Wikipedia willkommen sind.

Dabei funktionieren unterschiedliche Ansätze in unterschiedlichen Communitys. In der Kisuaheli-Ausgabe der Wikipedia reagieren die Leute sehr gut darauf, wenn es "Stubs" gibt – also Mini-Artikel zu einem Thema. In der deutschen Community würde das aber überhaupt nicht funktionieren. Ich werde aber auch von ständig neuen Initiativen überrascht. So habe ich erst kürzlich erfahren, dass es in der baskischen Community eine eigene Wikipedia-Ausgabe für Kinder gibt.

heise online: Sie legen großen Wert auf den Unterschied von der Wikimedia zu kommerziellen Internetkonzernen – gleichzeitig befindet sich die Zentrale der Wikimedia-Foundation in San Francisco. Ist das kein Widerspruch?

Maher: Der Einfluss des Umfelds in San Francisco ist nicht so stark wie man meinen könnte. Von den 270 Angestellten der Wikimedia-Foundation kommen nur noch zirka achtzig regelmäßig in unsere Büros in San Francisco. Gleichzeitig profitieren wir von dem professionellen Umfeld.

heise online: Sehen sie Wikipedia als einen Kontrapunkt zu Plattformen wie Facebook, die sehr kommerziell organisiert sind?

Maher: Ich glaube, wir liefern ein Vorbild für Leute, die ihre Organisation wachsen lassen wollen ohne sich auf die Ausbeutung der Daten der Mitglieder zu konzentrieren. Bei uns kann man auch sehen, was es heißt, wenn man die Community tatsächlich an der Entwicklung der Plattform partizipieren lässt. Aber natürlich ist es schwer, Unternehmern die Gründung eines Non-Profit-Modells schmackhaft zu machen. Vielleicht gibt es nur Platz für eine Organisation wie uns.

heise online: Eine Kritik an Facebook ist, dass die kommerzielle Ausrichtung der Plattform die Verbreitung von Fake-News unterstützt. Könnte Wikimedia hier nicht mehr entgegensetzen, indem die Stiftung die bisher nur vor sich hin dümpelnde Plattform WikiNews wiederbelebt?

Maher: Wikimedia-Gründer Jimmy Wales experimentiert mit dem Wiki-Modell grade in seinem Nachrichtenportal WikiTribune. Ich weiß nicht, ob es für die Wikimedia-Foundation derzeit Sinn macht, wesentliche Ressourcen in das Projekt WikiNews zu stecken. Sicher werden wir die Communitys weiter hosten und sind begeistert über ihre Arbeit. Aber ehrlich gesagt sind die Beiträge vieler Autoren und Spender auf die Kernprojekte wie Wikipedia und Wikimedia Commons konzentriert.

heise online: Viele Regierungen beraten derzeit darüber, Plattformen wie Google und Facebook zu regulieren. Ist davon auch Wikipedia betroffen?

Maher: Wo immer Leute über das Web diskutieren und dabei nicht wirklich wissen, wie die Wikipedia funktioniert, kann unsere Arbeit betroffen sein. Deshalb haben wir Teams, die sich zum Beispiel in Brüssel und in den Vereinigten Staaten mit der Politik arbeiten. Wichtig ist es, Teil der Konversation zu werden. Neue Gesetze, die für andere Plattformen vielleicht ein kleines Ärgernis darstellen, könnten die Arbeit in der Wikipedia signifikant behindern. Wenn zum Beispiel derzeit auf europäischer Ebene über unabdingbare Autorenrechte gesprochen wird, müssen wir entgegnen, dass diese Idee nicht mit freien Lizenzen zu vereinbaren ist.

heise online: Kommen sie mit dieser Botschaft bei den Gesetzgebern an?

Maher: Generell sind Abgeordnete bereit mit uns zu reden, weil sie den Wert erkennen, den wir zum Internet beitragen. Sie erkennen unser Projekt als etwas, das sie selbst nutzen und wertschätzen. Wir mögen zwar letztendlich nicht jeden politischen Kampf gewinnen, aber es ist auf alle Fälle der richtige Weg, mit den Entscheidern im Gespräch zu bleiben.

heise online: Wenig erfolgreich waren die Gespräche in der Türkei, wo die Enzyklopädie mittlerweile über ein Jahr gesperrt ist.

Maher: Wir sind natürlich in Gesprächen mit den türkischen Behörden. Aber es ist teilweise schwer. Viele Leute verstehen nicht, dass die Wikipedia von Freiwilligen geschrieben wird und wir keine direkte redaktionelle Kontrolle über die Inhalte ausüben. Ich hatte viele Gespräche mit der türkischen Community und habe den Eindruck, dass die Sperre viele entmutigt. Ihnen möchte ich sagen, dass wir alles in unserer Macht tun werden, um zu helfen. Die Community in der Türkei hatte zusammen mit der globalen Community entschieden, dass die geforderte Zensur von Inhalten nicht mit den Prinzipien der Wikipedia in Einklang zu bringen ist.

So lange die Wikipedia blockiert ist, ist es für uns wichtig den Dialog aufrecht zu erhalten, zum Beispiel über soziale Medien. Und ich habe den Eindruck, dass das Interesse in der Türkei an der Sperre hoch ist. So habe ich erfahren, dass eine Oppositionspartei die Entsperrung der Wikipedia ins Wahlprogramm geschrieben hat. Natürlich werden wir nicht parteigebunden aktiv – aber es ist schön zu wissen, dass wir Bestandteil des politischen Diskurses sind.

(dbe)