„Verschwörungstheorien über Chemtrails bereiten uns Schwierigkeiten“

Geoengineering könnte den Klimawandel abmildern. Doch wer sich damit beschäftigt, muss mit wütenden Reaktionen von Chemtrail-Gläubigen rechnen. Ein Klimaforscher berichtet.

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„Scheusslicher, antisemitischer Hass“

(Bild: "chemtrails for the tinfoil hats" / Greg Goebel / cc-by-sa-2.0)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • James Temple

Im vergangenen Frühjahr gab der Harvard-Klimawissenschaftler David Keith bekannt, zusammen mit einem Kollegen seine Pläne für kleinere Geoengineering-Experimente in der realen Welt weiter zu verfolgen. Die Technologie, mit der die beiden sich beschäftigen, wird als solares Geoengineering bezeichnet. Die Grundidee: Wenn man bestimmte Partikel in der Stratosphäre versprüht, könnten sie genügend Wärme ins Weltall zurückstrahlen, um die Erderwärmung teilweise auszugleichen. Doch der Schritt vom Labor zu Experimenten in der Atmosphäre hat für Kontroversen gesorgt.

Unter anderem sagen die Kritiker, es sei viel zu gefährlich, Manipulationen am globalen Klimasystem vorzunehmen. Darüber hinaus wurde die Forschung von Keith zum Gegenstand von Verschwörungstheorien über „Chemtrails“. Deren Anhänger glauben, dass die Kondensstreifen von Flugzeugen in Wirklichkeit beweisen, dass das Militär oder irgendjemand anderes bereits heute im großen Maßstab Chemikalien in den Himmel sprüht – für Wetter-Beeinflussung, Gedanken-Kontrolle und andere hässliche Zwecke.

In Wirklichkeit sind die Pläne von Keith bescheiden. Ein Ballon soll in 20 Kilometern Höhe über der Erde weniger als ein Kilogramm Partikel versprühen, wahrscheinlich unter anderem Schwefel und Kalziumkarbonat. Wenn Wissenschaftler messen können, welche Veränderungen das in der Stratosphäre auslöst, können sie ihre Computer-Modelle verfeinern und die Folgen von Geoengineering im großen Maßstab besser vorhersagen.

Klimaforscher David Keith

(Bild: Justin Saglio)

Die ersten Flüge zur Evaluierung der Systeme werden wahrscheinlich im Frühjahr 2019 beginnen, sagt Keith; die eigentlichen Experimente sollen im Herbst folgen. In einem Interview mit der US-Ausgabe von Technology Review erklärt er, die weit verbreiteten Falschinformationen über „Chemtrails“ hätten seine Arbeit bereits jetzt erschwert und die öffentliche Diskussion über Geoengineering infiziert.

Naomi Wolf, die feministische Autorin und progressive Politik-Beraterin, hat auf Twitter angefangen, Chemtrail-Theorien und unkorrekte Angaben über Ihr geplantes Experiment zu verbreiten. Haben Sie die Sorge, dass das, wie es einer Ihrer Kollegen mir gegenüber formuliert hat, ein „Jenny McCarthy Moment“ für Chemtrails war – etwas, das sie zu einem Massen-Missverständnis machen könnte, so wie den angeblichen Zusammenhang zwischen Autismus oder Impfungen?

Ich glaube, Chemtrails haben bereits den Mainstream erreicht. Je nachdem, wie man die Frage stellt, glauben 30 bis 40 Prozent der Amerikaner daran.

Aber ja, meine erste Reaktion war Entsetzen. Zufälligerweise ist meine Mutter eine feministische Dozentin, also habe ich ein paar von Wolfs Bücher beachtet und sie für eine ernst zu nehmende Person gehalten. Dann aber zeigte sich, dass sie an einen Haufen wirklich empörenden Verschwörungskram glaubt. Als ich das erkannte und sah, dass schon große Artikel in bedeutenden Publikationen erschienen waren, in denen es in anderen Zusammenhängen hieß, Wolf äußere sich etwas unüberlegt, bekam ich den Eindruck, dass sie nicht mehr so ernst genommen wird wie vor 15 Jahren.

Aber ich mache mir Sorgen, Punkt. Die Angst vor Chemtrails könnte sich auf eine Weise auf solares Geoengineering ausweiten, dass es viel schwieriger wird, ein vernünftiges Gespräch darüber zu führen.

Haben sich die Reaktionen verändert, seit Sie nicht mehr nur über Modelle sprechen, sondern auch über Experimente in der realen Welt?

Das ist amüsant. Auf gewisse Weise lautet die Antwort „überhaupt nicht“, denn in den Augen dieser Menschen geschieht ja bereits etwas Massives. Unser kleines Experiment macht so gesehen gar keinen Unterschied – ein einziges Kilogramm verändert nichts.

Haben Chemtrails-Verschwörungstheorien ihre Forschungsarbeit beeinträchtigt?

Sie bereiten uns eindeutig schon gewisse Schwierigkeiten, denn wir mussten Zeit und auch Geld aufwenden, um mit Sicherheitspersonal an der Harvard University zu sprechen und über physische Sicherheitsmaßnahmen für uns nachzudenken. Und ich glaube, manche Leute scheuen sich, an diesem Thema zu arbeiten, weil sie Angst um ihre physische Sicherheit haben. Ich glaube, wir müssen uns mehr Zeit für diese Frage nehmen, wenn wir Experimente machen oder Meetings abhalten.

Auf der anderen Seite verlief jede meiner direkten Begegnungen mit Chemtrails-Leuten bislang relativ respektvoll. Es hat echte Gespräche gegeben, bei denen manchmal die Stimmen lauter wurden, aber nichts Körperliches geschehen ist. Ich hatte sogar das Gefühl, dass wir uns gegenseitig hören.

Aus dem Internet habe ich unglaublich scheußlichen, antisemitischen Hass bekommen. Aber ich glaube, dass es zum Glück eine riesige Lücke zwischen dem gibt, was Menschen im Internet sagen, und was sie in der Realität tun würden.

Welche Arten von Drohungen erhalten Sie?

Ich habe Hass-Mails bekommen, in denen steht, ich sollte getötet werden oder für meine Sünden sterben oder sonst etwas, ziemlich viele. Alle ein oder zwei Wochen bekomme ich wirklich hässliche Post. Zweimal waren die Umstände so, dass wir die Polizei gerufen haben. Das machen wir, wenn jemand schreibt, er werde etwas Bestimmtes tun, und ihm vor absolutem Hass der Schaum vor dem Mund steht.

Wie sollten Wissenschaftler mit solchen Falschinformationen über ihre Arbeit umgehen?

Ich glaube nicht, dass es richtig ist, immer nur passiv zu bleiben. Natürlich wirken manche Debatten so, dass wir sie gar nicht führen sollten, aber wenn ein signifikanter Anteil der Bevölkerung darüber diskutiert, müssen wir uns einbringen.

Besteht die Gefahr, dass Sie dadurch Unsinn auf ein Niveau heben, bei dem der Eindruck entsteht, er habe eine öffentliche Diskussion verdient?

Wenn wir uns auf eine überlegte Weise zu Wort melden und versuchen, den politischen und intellektuellen Hintergrund dieser Ansichten zu verstehen, dann können wir meiner Meinung nach etwas bewirken. Ich glaube wahrscheinlich einfach an rationale Debatten.

Denn was wäre die Alternative – nicht darüber sprechen? Das würde Verschwörungstheorien wahrscheinlich nur weiter unterstützen.

Wie könnte eine besser organisierte Reaktion aussehen?

Schwierige Frage. Klar ist, dass Menschen in einem erheblichen Ausmaß aus Stammes-Gründen an bestimmte Dinge glauben – weil sie sich mit der Person identifizieren, die etwas sagt, und weniger auf der Grundlage von Fakten.

Meiner Meinung nach brauchen wir keine spezielle Organisation, sondern Verbindungen oder eine Koalition zwischen verschiedenen Bemühungen um Auflärung. Wir brauchen Menschen aus sehr unterschiedlichen politischen Lagern, die zeigen, dass sie sich in dieser Hinsicht einig sind.

Außerdem glaube ich, dass wir jede Stimme brauchen, um Facebook offen dafür zu kritisieren, dass Infowars und ähnliche Seiten immer noch von der Verbreitung von Falschinformationen profitieren können. Denn Profit ist definitiv ein Aspekt bei diesen Aktivitäten.

Hat es Rückmeldungen von als vernünftig anzusehenden Kritikern gegeben, die Einfluss auf Ihre Überlegungen zu dem Experiment hatten?

Aber natürlich. Dass wir einen so aufwendigen Beirat haben, liegt ohne Frage zum Teil daran, dass das Thema so genau beobachtet wird. Die allgemeine Diskussion darüber, welche Art von Forschung zu solarem Geoengineering richtig ist, wird mit Sicherheit von einer Reihe von Standpunkten und Bedenken beeinflusst, und das ist auch gut so.

Es ist sogar ein bisschen lustig. Die ETC Group als der stärkste Gegner dieser Art von Forschung gibt an, ihr Hauptanliegen sei Gerechtigkeit für den Globalen Süden. Ich bin mittlerweile der Meinung, und ich glaube auch viele andere Personen, dass genau das der Grund dafür ist, solares Geoengineering voranzutreiben. Für den Globalen Süden wäre es besonders hilfreich, weil es so billig ist, dass es eben nicht nur von den Eliten im Norden kontrolliert werden kann.

Meine Ansichten sind offensichtlich das Gegenteil derer der ETC Group, aber ich glaube, sie hat ihre Bedenken auf eine nützliche Weise vorgetragen.

Sind Sie optimistisch, dass auch in der heutigen Zeit, in der es die Wahrheit oft schwer hat, langfristig immer noch die Wahrheit gewinnt?

Ja, das bin ich tatsächlich. Rationalität ist besser als die Alternativen.

(sma)