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Was war. Was wird. – Nach dem Zivilisationsabbruch

Hal Faber grübelt über das, was wie ein Zivilisationsabbruch aussieht. Sind "besorgte Bürger" auf den Straßen oder Rechtsradikale? Ist "Ausrasten" jetzt normal?

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Was war. Was wird. - Nach dem Zivilisationsabbruch

Sitten sind traditionelle Praktiken, und wo es keine lebendige Tradition gibt, gibt es auch keine Sittlichkeit, weil es dann nichts gibt, nach dem man sich richten könnte. Der Gehorsam gegenüber den Sitten hat allerdings per se Sinn und Zweck. Dies entspricht dem Prinzip‚ mit dem die Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser, als keine Sitte. (F. Nietzsche)

(Bild: Pawel86)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Das "zivilisatorische Hexagon" von Dieter Senghaas soll die Bausteine für eine stabile und friedliche Gesellschaft zeigen. Das "Gewaltmonopol" steht aus gutem Grund ganz oben: die Bürger sind zu entwaffnen. Wohl auch aus gutem Grund.

*** Das Leben in der visionslosen Moderne ist anstrengend. Da gibt es jetzt mitdenkende Kaffeemaschinen, aber auch Mitmenschen, die auf das Denken verzichten und jede Menge Verschwörungstheorien glauben, die in ihr faschistisches Weltbild passen. Wer Menschen in Viehanhänger stecken will, ist längst nicht mehr der besorgte Bürger, an den die Politik mit Argumenten herantreten will. Wobei ich vielleicht übertreibe, wenn ich von Argumenten spreche. Denn dann müsste es ja so etwas wie eine Argumentation geben. Einfach mit einem "aber" zwei Aussagenblöcke zu verbinden, wie es Christian Lindner unter Erwähnung von AfD und NPD macht, ist jedenfalls grober Unfug. "Die Migrationspolitik von Angela #Merkel hat unsere politische Kultur verändert. Zum Schlechteren. Aber das ist keine Erklärung und keine Entschuldigung für Hetze, Rassismus oder Gewalt. #Chemnitz sollte die Demokraten vereinen und nicht spalten. Die Gegner heißen #AfD und NPD." Was Lindner sagen wollte, könnte man mit Adorno so ausdrücken: "Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie." Wenn ein Parteivorsitzender wie Alexander Gauland von der AfD das "Ausrasten" in Chemnitz für legitim hält und sich beklagt, dass besorgte Bürger jetzt für Rechtsradikale gehalten werden, dann ist genau dies das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie und nicht etwas, das der Demokratie von Außen angetan wird. Dazu gehört auch die Geschichte mit der Gästegruppe, die von AfD-Fraktionschefin Alice Weidel eingeladen worden war. Man wird doch wohl noch diese Gaskammern anzweifeln dürfen. Alles im Rahmen demokratischer Gepflogenheiten, versteht sich. So fährt es sich gut im Zug der AfD.

*** Bekanntlich wurde die Polizei in Chemnitz überrascht, sowohl von der Messerstecherei mit Todesfolge wie von den Demonstrationen an den Folgetagen. Sie kam nicht "vor die Lage", wie das polizeitechnisch genannt wird und sie kam nicht hinterher. Daran war auch eine Kommunikationspanne schuld. Als Konsequenz wird unverdrossen gefordert, dass die Polizei mehr Präsenz zeigen müsse, modisch verquickt mit Technik wie der intelligenten Gesichtserkennung und dem Einsatz von Predictive Policing in der Polizeiarbeit. Sollen doch die Datenschützer eine Schnute ziehen wegen dieser Gesichtserkennung, die haben sowieso keine Ahnung. Wie die Erwartungen sind, formuliert die Stiftung neue Verantwortung in ihrem Gutachten zum Predictive Policing: "Wenn überall Überwachungskameras mit Gesichtserkennung und Kennzeichenleser installiert sind, wenn jeder Polizeiwagen an eine lernende Prognosesoftware angeschlossen ist – dann ist es im Grunde gesellschaftlich nicht mehr hinnehmbar, dass überhaupt noch irgendwo ein Verbrechen geschehen kann." Was braucht man also dafür? Natürlich die retrograde Datenauswertung und dann wäre da noch die Vorratsdatenspeicherung, das muss der Europäische Gerichtshof doch endlich einsehen! Bitte denkt doch an die Kinder!

*** Pfffffff. Raus ist die Luft aus der Wolke, nach 100 Tagen. Weg ist sie. Die Deutschland-Cloud von Microsoft mit dem guten deutschen Datenschutz, der DSGVO und mit der Deutschen Telekom als Treuhänder wird abgelöst durch Online-Speicher, auf die Behörden wie das Department of Homeland Security womöglich einen besseren Zugriff haben. Da mag die Telekom ihre Treuhandfähigkeit beteuern und mitteilen, dass sie neue Angebote aufsetzt, doch was zusätzlich kostet, kostet zusätzlich. Big Data will frei und beweglich sein, das Ganze möglichst profitabel. Doch es gibt auch andere Töne: während Trump sich über Google beschwert, das die guten Trump-News unterdrückt, spricht sich sein ehemaliger Berater Bannon für die Nationalisierung von Big Data aus.

*** Achja Europa. Europa hat mal wieder ein Problem. Dank einer europäischen Umfrage hat die Debatte über die Zeit in den Heise-Foren epische Ausmaße angenommen, mit feinsten Invektiven bei den Befürwortern der Sommerzeit, den Freunden der Normalzeit und den Realos der Echtzeit. Die Diskussion erinnert an das große Fischeverprügeln in einem kleinen Dorf kurz vor dem abendlichen Wildschweinschmaus. Nach einem reichlich ungeflügelten Spruch von Jean-Claude Juncker und einigen klugen Gedanken von Martin Holland muss natürlich Benjamin Franklin her, der Erfinder der Sommerzeit: "Ist die Zeit das Kostbarste unter allem, so ist die Zeitverschwendung die allergrößte Verschwendung." Als Gesandter in Frankreich rechnete er den Parisern haarklein vor, wie viele Kerzen sie verschwenden, wenn sie den Tag im Sommer nicht früher angehen. Die Städter konnten seine detaillierte Rechnung nicht sonderlich leiden und ein Zeitgenosse konstatierte trocken: "Herr Franklin will, das wir wie die Bauern leben. Wir wollen uns aber nicht nach dem Vieh richten." Nun ist jede Zeit tief eingebettet in die Technologie ihrer Zeit – man denke an die Zeitzonen, die in den USA zur Standardisierung des Eisenbahnverkehrs eingeführt wurden. Da kann man sich glatt auf die Zeit freuen, wenn das neue Zeitkonzept des Named Data Networking diskutiert wird. Bis dahin singen wir tiefenentspannt If I Could Turn Back Time aus vollen Rohren mit.

Im Bundestag läuft mit dem Start des Schwedensommers die parlamentarische Sommerpause ab. Politiker aller Couleur machen sich dann an die Arbeit, die Bürger abzuholen, wo immer sie herumstehen mit ihren Smartphones. Recht stille war es trotz Chemnitz um Horst Seehofer, doch das soll sich eigentlich ändern. In der anstehenden Woche ist es noch ein #Seehofer, der zusammen mit @katarinabarley die erlauchten Mitglieder der Datenethikkommission vorstellt, aber dann wird getwittert, irgendwie, irgendwo, irgendwann. Vielleicht zu Anfang mit einem lustigen Tweet, warum der ihm unterstehende Verfassungsschutz nicht die AfD beobachten soll. Wo sich doch Hans-Georg Maaßen dort so überaus engagiert gezeigt hat.

"Das Volk, das sich nicht anerkannt findet, muß dieses Anerkanntwerden produzieren, durch Krieg oder Kolonien." (G.W.F. Hegel, System der Sittlichkeit)

Lang angekündigt und mehrfach verschoben, bekommt Deutschland nun die Agentur für Cybersicherheit, die ADIC. Die "Agentur für Disruptive Innovationen in der Cybersicherheit und Schlüsseltechnologien" wird mit ihren 100 Mann Besatzung eine Bundesbehörde sein, die volles Risiko gehen soll mit ihren Forschungsprojekten. Großes Vorbild soll die nunmehr 60 Jahre alte DARPA sein, die bekanntlich das Internet und das GPS entwickelte. Volles Risiko beim Unterstützen von Forschungsprojekten heißt auch, "dass ein Großteil vielleicht nicht funktioniert und in den Sand gesetzt wird, aber es braucht nur ein goldenes Ei, also eine Technologie, die wirklich bahnbrechend ist..." Weil "Hack Back" zu den Fähigkeiten der ADIC zählen soll, ist die Bundeswehr mit von der Partie. Dort übt man beim Kommando Cyber- und Informationsraum das sorgfältig austarierte Zurückschlagen, je nach dem wie man geschlagen wurde. Wenn eine kritische Infrastruktur angegriffen wird, schlägt man mit einem Angriff auf die kritische Infrastruktur zurück, oder so. Oder nicht? Wie schön, dass all dies bald auf einer Tagung besprochen wird, die sich mit der "Option Hack Back" im Namen der Cybersicherheit beschäftigt. (bme)