Wozu Demokratie, wenn man Daten hat?

China will Technik und Regierungsführung verschmelzen – mit schwarzen Listen, Sozialpunkten und Tracking-Apps.

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Wozu Demokratie, wenn man Daten hat?

Menschen in Peking sind immer im Blick
von Mao – und von einer Myriade Überwachungskameras.

(Bild: Foto: Gilles Sabrié)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Christina Larson

Wenn eine Regierung keine öffentliche Debatte, kein ziviles Engagement und keine Wahlen zulässt – woher soll sie dann genug Informationen bekommen, um die richtigen Entscheidungen in einer immer komplexeren Gesellschaft zu treffen? „Jedes autoritäre Regime hat ein grundlegendes Problem: herauszufinden, was in den unteren Schichten der Gesellschaft vor sich geht“, sagt Politikwissenschaftlerin Deborah Seligsohn von der Villanova University in Philadelphia. So auch China.

Doch Chinas Führer Xi Jinping geht einen ganz neuen Weg, um das Problem zu lösen. Er vertraut auf Überwachung, künstliche Intelligenz und Big Data, um das Leben und Verhalten von 1,4 Milliarden Menschen zu verstehen. Seit seiner Ernennung zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei im Jahr 2012 hat Xi eine Reihe ambitionierter Pläne vorgestellt – unter anderem, um die Zensur zu stärken und die volle Kontrolle über das heimische Internet durchzusetzen. „Keine Regierung hat ehrgeizigere Pläne, die Macht der Daten zu nutzen, um die Art und Weise ihrer Regierungsführung zu ändern“, sagt Martin Chorzempa vom Peterson Institute for International Economics in Washington. Mit den jüngsten Tumulten in den westlichen Demokratien, sei es die Wahl von Donald Trump, der Brexit oder der Aufstieg rechtsextremer Parteien in ganz Europa, fühlen sich chinesische Spitzenpolitiker zunehmend berechtigt dazu, Wähler außen vor zu halten. Sie sind nicht einmal die Einzigen: Auch viele unabhängige Beobachter fragen sich, ob solch datengetriebenes Regieren eine brauchbare Alternative zur zunehmend dysfunktional wirkenden Demokratie sein könnte.

Schon immer haben chinesische Herrscher versucht, die Stimmung in der Öffentlichkeit zu erschließen, ohne hitzigen Debatten und öffentlicher Kritik das Tor zu öffnen. So gibt es eine bis in die Kaiserzeit zurückreichende Tradition, dass verärgerte Landbewohner nach Peking reisen und ihr Anliegen dort in kleinen Demonstrationen öffentlich vorbringen – in der Hoffnung, dass der Kaiser ein besseres Urteilsvermögen zeigen möge als die lokalen Behörden. Auch Hu Jintao, Xis Vorgänger als Generalsekretär, sah eine begrenzte Offenheit als Chance, Probleme aufzudecken. Blogs, Antikorruptionsjournalisten, Menschenrechtsanwälte und Onlinekritiker, die lokale Korruption in den Blickpunkt rückten, prägten die öffentliche Debatte gegen Ende seiner Regierungszeit. Xi scheint zu Beginn seiner Amtszeit zunächst daran angeknüpft zu haben. Er ließ sich angeblich täglich über Beschwerden in den sozialen Medien unterrichten. Auch Demonstranten konnten zunächst noch in die Hauptstadt kommen, um auf Skandale wie illegale Landnahme durch lokale Behörden oder giftiges Milchpulver aufmerksam zu machen.

Aber mittlerweile hält die Polizei sie zunehmend davon ab, Peking überhaupt zu erreichen. „Jetzt müssen sie ihre Ausweisnummern angeben, um Bahntickets kaufen zu können“, sagt Maya Wang, China-Expertin bei Human Rights Watch. „Das macht es den Behörden leicht, potenzielle Störenfriede zu identifizieren. Mehrere Menschen sagten uns, sie seien schon am Bahnsteig aufgehalten worden.“ Blogger, Aktivisten und Anwälte werden ebenfalls systematisch zum Schweigen gebracht oder inhaftiert.

So weit bekannt, hat China keinen Masterplan, Technologie und Regierung miteinander zu verschmelzen. Aber es gibt mehrere Initiativen, die mit Daten das Verhalten beeinflussen wollen. Dazu gehören das Cybersecurity-Gesetz von 2016 sowie verschiedene Experimente auf lokaler und privater Ebene. Häufig handelt es sich dabei um Partnerschaften zwischen der Regierung und chinesischen Technologieunternehmen. Das weitreichendste aber ist das Social-Credit-System von 2014. Sein offizielles Ziel: Es soll Verlässlichkeit bei politischen, geschäftlichen und juristischen Angelegenheiten schaffen. Es ist noch im Aufbau, aber verschiedene Pilotprojekte geben einen Ausblick darauf, wie es funktioniert, wenn es 2020 vollständig umgesetzt sein wird.

Sein zentraler Bestandteil sind schwarze Listen. So haben Gerichte die Namen von Personen veröffentlicht, die in den vergangenen fünf Jahren ihre Geldbußen nicht bezahlt oder ihre Auflagen nicht befolgt haben. Diese Liste wird nun an verschiedene Unternehmen und Behörden verteilt. Wer auf dieser Liste steht, kann beispielsweise kein Geld mehr leihen, keine Flüge mehr buchen oder nicht mehr in Luxushotels übernachten. Chinas staatliche Verkehrsbetriebe haben eigene schwarze Listen erstellt mit Menschen, die etwa Zugtüren blockieren oder unterwegs Streit anfangen. Sie werden für sechs bis zwölf Monate von Ticketkäufen ausgeschlossen. Anfang dieses Jahres hat Peking zudem „unehrliche“ Unternehmen aufgelistet, die künftig keine staatlichen Aufträge oder Zuschüsse mehr erhalten. Für Beschwerdeführer, investigative Journalisten oder Drogenkonsumenten gibt es jeweils eigene Überwachungssysteme.

(grh)