Intelligenz neu gedacht

Seit Jahren mehren sich Hinweise darauf, dass viele Tiere Probleme lösen können, die bisher bestenfalls Menschen und Menschenaffen knacken konnten. Hilft das beim Bau intelligenter Maschinen?

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Intelligenz neu gedacht

(Bild: Shutterstock)

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Es ist noch zu früh. Die neongelbe Blüte der Nachtkerze ist fest geschlossen, aber die Hummel gibt nicht auf. Immer wieder fliegt sie die Blüte an, drängt ihren massigen Körper zwischen die eng eingedrehten Blütenblätter. "Das muss doch gehen", scheint sie zu denken. "Das ging doch gestern auch." Schließlich hat sie Erfolg, die Nachtkerze beginnt ihre Blüte zu öffnen, und die Hummel kann ihre Pollen einsammeln.

Ist dieses Verhalten wirklich nur das Resultat eines einfachen biologischen Automatismus? Oder stecken dahinter tatsächlich Hartnäckigkeit, Planung, eine individuelle Entscheidung einzelner Tiere? Haben wir die geistigen Leistungen anderer Lebewesen gnadenlos unterschätzt und unsere eigenen hoffnungslos überbewertet? Weltweit mehren sich die Indizien dafür, dass die Antwort lautet: Ja, haben wir. Jüngstes Beispiel: Erst im Juni veröffentlichten australische und französische Forscher in der renommierten Zeitschrift "Science" eine Studie, die zeigt, dass Honigbienen nicht nur kleine Mengen miteinander vergleichen können, sondern darüber hinaus sogar das Konzept der Zahl Null verstehen.

Die Bienen wurden darauf trainiert, ein Bild mit der geringsten Anzahl von Elementen zu wählen, um eine Belohnung in Form von Zuckerlösung zu erhalten. So lernten sie zum Beispiel, drei Elemente zu wählen, wenn sie die Auswahl zwischen Tafeln mit drei oder fünf Punkten hatten. Als Forscher die Bienen zwischen einem Bild mit und einem ohne Punkte wählen ließen, entschieden sich die Bienen zur Verblüffung der Forscher für das Bild ohne Punkte.

Fast scheint es, als ob die Tiere verstanden hätten, dass Null ebenfalls eine Zahl ist. Dabei ist die Null ein kniffliges neurowissenschaftliches Problem. "Es ist relativ einfach für Neuronen, auf Reize wie Licht oder die Anwesenheit eines Objekts zu reagieren", sagt einer der beteiligten Forscher, Adrian Dyer von der RMIT University Melbourne. "Aber wie können wir oder sogar ein Insekt verstehen, was nichts ist? Wie kann ein Gehirn nichts darstellen?" Kinder brauchen Jahre, bis sie das lernen, und lange glaubten Wissenschaftler, dass nur Menschen die dafür nötige Intelligenz haben. Dann aber zeigten neuere Forschungen, dass auch Affen und Vögel dazu in der Lage sind. Und nun sogar Insekten, der Klub ist also gar nicht mehr so exklusiv.

"Die Tiere sind nicht nur simple Reiz-Reaktionsmaschinen", sagt auch Lars Chittka von der Queen Mary University in London. In eigenen Versuchen hat er zum Beispiel Hummeln vor die Herausforderung gestellt, an eine versteckte Blüte zu kommen. Um das zu tun, mussten sie lernen, an einem Faden zu ziehen. In einem anderen Experiment hat er die Insekten dazu gebracht, Bälle über eine gewisse Distanz in ein Ziel zu rollen, um eine Belohnung zu bekommen. Bemerkenswert dabei ist vor allem, dass das Objekt in keiner direkten räumlichen Beziehung zur Belohnung stand. "Diese Art von Lösungserhalten können wir uns nicht anders erklären, als dass es tatsächlich eine einfache Form von Intelligenz gibt", sagt Chittka.

Damit stellt sich die Frage: Wie entsteht intelligentes Verhalten? Hat Intelligenz viel weniger mit höheren Hirnfunktionen zu tun als bisher vermutet? Die Frage ist nicht nur akademisch interessant, wie sich am Beispiel der Zahl Null gut zeigen lässt. Eines der Probleme bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz ist, dass Roboter in sehr komplexen Umgebungen arbeiten müssen. "Eine Straße zu überqueren ist für erwachsene Menschen einfach, wir verstehen, wenn es keine Autos, Fahrräder oder Straßenbahnen gibt", sagt Dyer. "Aber was ist Null, wie stellen wir dies für so viele komplexe Objektklassen dar, um Entscheidungen in komplexen Umgebungen zu treffen? Wenn Bienen Null mit einem Gehirn von weniger als einer Million Neuronen wahrnehmen können, deutet das darauf hin, dass es einfache, effiziente Wege gibt, KI neue Tricks beizubringen."

Worin aber bestehen diese Tricks? Auf der Suche nach ihnen haben Forschungen wie die von Dyer und Chittka unser Weltbild schon kräftig durcheinandergewirbelt. Ziemlich sicher werden weitere derartige Erkenntnisse folgen. Einige Forscher, wie der australische Biologe Ken Cheng, glauben sogar, dass die Biologie einen ganzen Strauß von intelligenten Verhaltensweisen gar nicht als solche zur Kenntnis genommen hat.

"Intelligenz ohne Repräsentation" nennt Cheng dieses Verhalten – die direkte, aber dennoch nicht rein automatische Verarbeitung von Information, ohne dass ein Lebewesen abstrakte Konzepte begreifen muss. So gibt es Wissenschaftler, die der Auffassung sind, die Netze von Spinnen seien Teil ihres kognitiven Systems, weil die Tiere die Fadenspannung daran anpassen, wie hungrig sie sind. Je hungriger, desto straffer die Fäden. Desto kleiner ist zwar auch die Beute, die die Spinne wahrnehmen kann, dafür aber ist ein Fang wahrscheinlicher. "Ich stelle die Vorstellungen von Kognition und Intelligenz nicht infrage", sagt Cheng.

"Kognition ist von zentraler Bedeutung für die Intelligenz, kommt aber in mehr Variationen vor, als die üblichen Theorien besagen." Jonas Rose, der an der Ruhr-Uni Bochum die kognitiven Fähigkeiten von Krähen erforscht, leitet daraus ab: "Die hierarchische Weltsicht der klassischen Biologie funktioniert nicht mehr." In dieser Weltsicht ist der Mensch das einzig wirklich intelligente Tier. Je weiter ein Lebewesen vom Stammbaum des Menschen entfernt ist, desto geringer ist seine Intelligenz.

Vögel wären demzufolge weniger intelligent als Schafe, denn sie sind keine Säugetiere. Ihre evolutive Trennung fand vor etwa 300 Millionen Jahren statt. Doch spätestens seit Rose mit Krähenvögeln arbeitet, weiß er, dass etwas an dieser Weltsicht falsch sein muss. Von den Tieren ist nicht nur bekannt, dass sie sich selbst im Spiegel erkennen und Werkzeug gebrauchen können. Sie sind auch in der Lage, längerfristig zu planen. "Von Eichelhähern weiß man, dass sie Futter für die Zukunft verstecken", sagt Rose. "Wenn es in einem Käfig zum Beispiel zum Frühstück immer Mehlwürmer gibt, in dem anderen immer Erdnüsse, und man den Eichelhähern am Abend vorher Erdnüsse und Mehlwürmer anbietet, verstecken sie genau das Futter, das es in diesem Käfig am nächsten Morgen nicht geben wird."

Dass Krähen ziemlich clever sind, ist zunächst keine große Überraschung. Schon in antiken Fabeln und zahlreichen mythischen Texten tauchen die Tiere als kluge Kommunikatoren auf. Überraschend ist jedoch, wie nah ihre geistige Leistungsfähigkeit wirklich an die von Affen und Menschen heranreicht. Jonas Rose und seine Kollegen konzentrieren sich dabei auf das Arbeitsgedächtnis – ein Bereich im Gehirn, in dem Fakten gespeichert werden, die gerade bearbeitet werden. Er ist damit ein zentraler Bestandteil kognitiver Fähigkeiten. "Jeder weiß, dass es diese lästige Obergrenze gibt. Man kann sich nicht mit beliebig vielen Dingen gleichzeitig beschäftigen", sagt Rose. Die Forscher wollten wissen, über wie viele Dinge eine Krähe gleichzeitig nachdenken kann.