"Die Physik verrät viel weniger über die Realität, als wir denken"

Der Philosoph Philip Goff ist davon überzeugt, dass Bewusstsein nicht nur auf Menschen und vielleicht noch Tiere begrenzt ist. Er hält es für einen allgegenwärtigen Teil der Realität.

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"Die Physik verrät viel weniger über die Realität, als wir gemeinhin denken"

(Bild: privat)

Lesezeit: 7 Min.

Goff ist Dozent an der Central European University in Budapest. 2017 veröffentlichte er bei Oxford University Press "Consciousness and the Physical World".

TR: Professor Goff, Panpsychisten, wie Sie es sind, glauben, dass alle Dinge ein Bewusstsein haben. Wie kommen Sie darauf?

Philip Goff: Da muss ich Sie korrigieren. Richtig ist, dass Bewusstsein ein grundlegendes, allgegenwärtiges Merkmal der Realität ist. Im Panpsychismus haben die elementarsten Bestandteile der Realität wie Elektronen und Quarks unvorstellbar einfache Erfahrungsformen. Die Ansicht bedeutet also, dass das Bewusstsein überall ist, als grundlegendes, allgegenwärtiges Merkmal der Realität. Sie bedeutet aber nicht, dass jeder Stein oder Tisch ein Bewusstsein besitzt.

Nur um sicher zu sein, dass ich es verstanden habe: Die Theorie besagt, dass ein Elektron neben physikalischen Eigenschaften wie Masse oder elektrischer Ladung noch eine andere Eigenschaft hat: eine Art Grundbewusstsein?

Nicht ganz. Wir gehen davon aus, dass die physikalischen Eigenschaften selbst Formen des Bewusstseins sind. Um das zu verstehen, muss ich kurz auf die wissenschaftlichen Ideen von Bertrand Russell und Arthur Eddington eingehen, dem ersten Wissenschaftler, der die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein bewiesen hat. Ihr Ausgangspunkt war, dass die Physik viel weniger über die Natur der Realität sagt, als wir gemeinhin denken.

Was Russell und Eddington erkannten, war, dass die Physik nur über das Verhalten der Materie Auskunft gibt. Was sagt uns die Physik über ein Elektron? Sie gibt Auskunft über die Masse und die Ladung des Elektrons. Und sie charakterisiert diese Eigenschaften in Bezug auf das, was sie tun: Masse ist ein Maß für den Widerstand gegen Beschleunigung, Ladung ist ein Maß für die Kraft, die durch Anziehung oder Abstoßung zu anderen Ladungen entsteht, und so weiter. Die Physik sagt uns aber nicht, was ein Elektron ist.

Zu erkennen, dass etwas in der Beschreibung der Welt fehlt, bedeutet aber nicht automatisch, dass die Lücke mit Bewusstsein gefüllt ist. Was ist Ihr Argument für diese Idee?

Ich muss zugeben, dass der Panpsychismus nicht getestet werden kann. Einfach weil Bewusstsein nicht beobachtbar ist. Sie können nicht in meinen Kopf schauen und meine Gefühle und Erfahrungen sehen. Aber die Theorie bietet die beste Erklärung für den Platz des Bewusstseins in unserem wissenschaftlichen Bild des Universums. Wir wissen, dass Bewusstsein real ist. Jede Theorie, die behauptet, eine vollständige Beschreibung der Realität zu liefern, muss uns sagen können, wie das Bewusstsein in unser Bild der Welt passt.

Wenn sie das nicht kann, kann sie nicht wahr sein. Aus Eddingtons Perspektive ist das Einzige, was wir über die Eigenart der Materie wissen, dass etwas davon – das Zeug in unserem Gehirn – Bewusstsein besitzt. Das ist eine wirklich seltsame, schwierige Sache. Aber wenn wir diesen Ausgangspunkt akzeptieren, ist der einfachste elegante Vorschlag, dass das Material außerhalb des menschlichen Gehirns dieselben physikalischen Eigenschaften wie das Material innerhalb des menschlichen Gehirns haben muss – und das bedeutet, dass es auch Bewusstsein hat.

Aber es gibt doch auch andere, wissenschaftliche Erklärungen, oder?

Ja, Panpsychismus ist nur ein möglicher Vorschlag. Sein Reiz liegt allerdings darin, dass er die sehr tiefen Schwierigkeiten vermeidet, denen zwei weitere konventionelle Konkurrenten gegenüberstehen. Auf der einen Seite der Materialismus: Er besagt in etwa, dass Bewusstsein durch die Chemie des Gehirns erklärt werden kann. Und wir haben den Dualismus, der die Ansicht vertritt, dass das Bewusstsein nicht physisch ist – irgendwie außerhalb des Gehirns liegt. Beide Ansichten bringen uns jedoch in große Schwierigkeiten. Der Materialismus hat tiefe philosophische Probleme, der Dualismus führt zu wissenschaftlichen Schwierigkeiten.

Welchen?

Dem Dualismus zufolge liegt der Verstand völlig außerhalb der physischen Welt. Wie aber interagieren dann die physische Welt und der Verstand miteinander? Wir sehen keine Hinweise auf eine nicht-physische Interaktion mit dem Gehirn. Das wäre wie eine Art Poltergeist.

Und was ist das Problem mit dem Materialismus?

Er hat gleich mehrere. Eine Sache ist, dass Bewusstsein viel mit den Qualitäten von Erfahrungen zu tun hat: Da ist dieses Rot in einem Bild, dieser Kaffeeduft oder der süße Geschmack von Zucker. Unsere Bewusstseinserfahrung ist von subjektiven Qualitäten geprägt, aber die Physik beschränkt sich auf ein rein quantitatives Vokabular. Die Naturwissenschaft beginnt damit, dass Galileo erklärt, dass Mathematik die Sprache der Wissenschaft sei. Aber Galileo hatte recht gut verstanden, dass man nicht alle Erfahrungen in eine mathematische Sprache fassen kann. Also behauptete er, subjektive Erfahrungen seien nur in der Seele – und damit außerhalb der Sphäre der Naturwissenschaften. Sie sehen: Die Naturwissenschaft war von Anfang an nicht als vollständige Beschreibung der Wirklichkeit gedacht.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Physik versucht, die Welt in objektiven Begriffen zu erfassen. Sie will eine Beschreibung der Welt geben, die von jedem verstanden werden kann, unabhängig von seiner Perspektive und seinem Standpunkt. Wenn also Außerirdische vom Mars kämen und intelligent genug wären, unsere Mathematik zu verstehen, sollten sie auch unsere Physik verstehen. Aber vielleicht hätten sie ganz andere Sinnesorgane, und dann wären sie wohl nicht in der Lage, unsere Kunst und unsere Musik zu verstehen. Aber wenn sie intelligent genug wären, unsere Mathematik zu verstehen, könnten sie auch unsere Physik verstehen. Bewusste Zustände können wir nur verstehen, in dem wir eine subjektive Perspektive einnehmen. Der Philosoph Thomas Nagel hat das mal so formuliert: Egal wie viel wir über die Biologie einer Fledermaus wissen, wir werden nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Weil wir nicht wissen, wie es ist, durch die Welt zu schweben.

Hat der Panpsychismus irgendeine praktische Anwendung, oder ist es nur ein intellektuelles Bestreben, die Welt besser zu verstehen?

Ich kann nicht behaupten, dass der Panpsychismus irgendwelche offensichtlichen praktischen Implikationen hätte, die uns helfen, Brücken oder Raumschiffe zu bauen. Aber als Wissenschaftler wollen wir nicht nur Brücken bauen oder Krebs heilen. Wir wollen versuchen zu verstehen, wie diese Realität, in der wir leben, wirklich ist.

Wie viele Ihrer Kollegen teilen eigentlich Ihr Konzept der Realität?

Ich arbeite jetzt seit elf Jahren in diesem Bereich, und als ich mich zum ersten Mal um eine Stelle bewarb, wurde mir gesagt, ich solle mein Interesse an Panpsychismus für mich behalten. Mein erstes akademisches Buch zu diesem Thema erschien letzten Sommer, und ich arbeite gerade an einem populärwissenschaftlichen Buch zu dem Thema, das nächstes Jahr in den USA und in Großbritannien erscheinen wird.

Ich würde sagen, es ist immer noch ein Minderheitskonzept, aber der große Unterschied in der philosophischen Wissenschaft ist, dass Panpsychismus sich von einer Sichtweise, die völlig lächerlich gemacht wurde, zu einer Theorie entwickelt hat, die sehr ernst genommen wird. Unsere besten jungen analytischen Philosophen in der Tradition von Gottlob Frege und Ludwig Wittgenstein beschäftigen sich damit.

(wst)