Meinung: Werdet erwachsen!

Würde man eine Beschreibung unseres heutigen Alltags ins, sagen wir, Jahr 1962 transportieren, man könnte sie als pure, wenn auch etwas überspannte Science-Fiction verkaufen.

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Meinung: Werdet erwachsen!

(Bild: Studiostoks/Shutterstock)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Andreas Eschbach
Inhaltsverzeichnis

Denn es ist so: Jeder Mensch trägt ein Telefon in der Hosentasche und hat über einen Computer, der kaum größer ist als ein Frühstücksbrettchen und den jedes Kind mit bloßen Fingerbewegungen bedienen kann, jederzeit Zugriff auf das Wissen der ganzen Welt, sogar dann, wenn er zum Beispiel gerade in einem Zug sitzt, der mit 300 Stundenkilometern dahinsaust. Computer in unseren Autos dirigieren uns mithilfe Hunderter von Weltraumsatelliten, kleine Geräte im Wohnzimmer beantworten uns jede Frage, und wir müssen uns ernsthaft sorgen, von unseren Rauchmeldern ausspioniert zu werden.

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Das gäbe einen Artikel, der 1962 mit Interesse gelesen würde, obwohl oder vielleicht gerade weil die 60er-Jahre selber nicht gerade arm an eigenen Zukunftsvisionen waren: fliegende Autos für jedermann, Städte auf dem Mond, Haushaltsroboter, Steuerung des Wetters, Begrünung der Wüsten und Hochzeitsreisen ins All bevölkerten die Vorstellungen davon, wie "wir" im 21. Jahrhundert leben würden. Und obwohl sich seither vieles davon verwirklicht hat, wenn auch nicht unbedingt genau so, herrscht heute ein auffallender Mangel an vergleichbaren Visionen unsere eigene Zukunft betreffend: Darüber, wie "wir" im Jahr 2100 leben, will offenbar niemand so gern nachdenken.

Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass man heute einschlägige Zeitschriftenartikel aus der Zeit vor der Mondlandung nicht ohne Schmunzeln lesen kann. Was war man damals optimistisch! Und vor allem: Was war man damals naiv!

Man sieht das leicht an der Diskussion über fliegende Autos, die in letzter Zeit wieder aufgekommen ist. Heute sagt man nicht einfach nur: "Fliegende Autos – toll!", sondern man denkt auch darüber nach, wie dadurch der Lärm in den Städten ins Unerträgliche gesteigert würde, und sieht die vielfach höheren Unfallgefahren: Dass ein fliegendes Auto nicht einfach rechts ranfahren kann, wenn es eine Panne hat, sondern womöglich abstürzt, das hätte man sich auch 1962 schon überlegen können. Doch damals neigte man dazu, mögliche negative Auswirkungen technischer Neuerungen großzügig auszublenden.

Andreas Eschbach gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren Europas. Er hat (ohne Abschluss) Luft- und Raumfahrttechnik studiert und Software entwickelt, bevor er 1995 seinen ersten Roman veröffentlichte. Zuletzt erschienen 2016 sein Thriller "Teufelsgold" und 2018 "NSA", in dem Eschbach das Dritte Reich mit heutiger Technik beschreibt.

(Bild: Uwe Zucchi/ Dpa Picture-Alliance)

Wir haben in der Zwischenzeit gelernt, dass viele der Probleme, mit denen wir heute kämpfen, ihre Ursache in Lösungen anderer Probleme haben, und auf diesem Weg haben wir den bis zur Mondlandung vorherrschenden Optimismus eingebüßt, man könne alle Probleme durch Technik lösen. Im Gegenteil, unsere Erfahrung ist, dass es nichts gibt, das nicht irgendwo auch Nachteile hat. Dieses geniale Science-Fiction-Teil in jedermanns Hosentasche zum Beispiel verschafft uns nicht nur Kontakt mit aller Welt, sondern auch den Terror ständiger Erreichbarkeit, von der permanenten Überwachung ganz zu schweigen.

Zwar gibt es Technikbegeisterung immer noch, aber selbst in ihren wildesten Ausprägungen kommt sie nicht mehr annähernd so vollmundig daher wie seinerzeit.

Ein weiterer und vielleicht noch wichtigerer Grund: Es kennzeichnet die jeweiligen zeitgenössischen "positiven Zukunftsvisionen", dass sie fast immer einfach Expansionen des Bekannten, des bereits Vorhandenen sind: Autos gab es schon, also stellte man sich fliegende Autos vor. Städte gab es, also baute man sie in Gedanken auf den Mond oder den Mars. Paradigmenwechsel werden so gut wie nie antizipiert (denn könnte man das, wären es keine): Computer waren 1962 schon bekannt, aber man kannte sie nur als riesige Geräte und konnte sich allenfalls vorstellen, dass jeder Haushalt über ein Terminal dazu verfügt, nicht aber, dass Computer kleiner als Streichholzschachteln werden und dass Millionen davon weltweit vernetzt sein würden.

Dieses expansive Element ist in der Zwischenzeit an Grenzen gestoßen. Die schon erwähnte Mondlandung, das vielleicht größte technologische Abenteuer der Menschheit überhaupt, hat uns allen gezeigt: Ja, es geht – aber es eröffnet uns keine neuen Möglichkeiten. Der Mond, haben wir gesehen, ist kein Lebensraum, sondern unwirtlicher als die unwirtlichsten Gebiete auf der Erde, die wir aus gutem Grund auch nicht besiedeln. Die Kolonisation ferner Welten, die Erschließung weiterer Erden, wird für sehr lange Zeit nur ein fantastischer Traum bleiben, vielleicht für immer.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es Grenzen des Wachstums gibt, Grenzen der Expansion, und mit diesen Grenzen schlagen wir uns heute herum, nicht wie damals mit den Grenzen der Technik. Die waren, wie wir wissen, erweiterbar – aber das hat unsere wirklichen Probleme nicht gelöst, sondern bisweilen eher verschlimmert.

Die Zukunft wird in einer begrenzten Welt stattfinden, und sich das auszumalen, ist nicht so "sexy", wie von grenzenloser Expansion menschlicher Möglichkeiten zu träumen: Es ist schließlich auch ungleich aufregender, sich vorzustellen, man wäre plötzlich Milliardär, als sich zu überlegen, wie man mit einem plötzlich reduzierten Gehalt durch die nächsten Monate kommt.

Eine positive Utopie ist deswegen positiv, weil sie in irgendeiner Form "mehr" verspricht, zumindest mehr Glück. Das aber ist schwierig in einer Welt, die wir, wie abzusehen ist, mit immer mehr Menschen werden teilen müssen. Wir weichen in virtuelle Räume aus, in den Cyberspace, den wir so grenzenlos machen können, wie wir wollen, in Spielwelten, die wir in beliebiger Zahl erschaffen können, aber es bleibt ein Ausweichen. Geht uns die Zukunft aus? Das nicht – aber sie hält einige ernste Herausforderungen für uns bereit, denen wir uns stellen müssen. Wenn zuvor die naiven Visionen aus unserer Vorstellungswelt verschwinden, dann hat das vielleicht eher etwas mit Erwachsenwerden zu tun.

(bsc)