Markt und Fortschritt

Eine Geschichte ohne Happy End.

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Montag war ich auf der Hannover Messe. Da wird die technische Zukunft präsentiert: vernetzte Produktion, künstliche Intelligenz und jede Menge Digitalisierung. Und zwischen drin immer wieder Podiumsdiskussionen mit Unternehmern, Wissenschaftlern und Politikern, die in Variationen darüber sprechen, ob Deutschland in dieser sich so rasch verändernden Welt den Anschluss halten kann. Oft und gern werden in diesem Zusammenhang die heilsamen Kräfte des Marktes beschworen. Mehr Wettbewerb ist gut für alle. Verkrustete bürokratische Planung könne mit der Dynamik des Silicon Valley nicht Schritt halten, heißt es. Bei mir um die Ecke stellt sich das anders dar.

Ich wohne in Linden, einer ehemaligen Industrie-Vorstadt von Hannover mit ausgeprägten Arbeitervierteln. Trotz Sanierung ist die soziale Struktur dort noch immer gemischt, Hipster und ökologisch orientierten Akademikern wohnen Seite an Seite mit einem eher subproletarischen Klientel. Der von meiner Wohnung nächstgelegene Supermarkt ist eine Netto-Filiale. Und eben diese Filiale hat vor einigen Wochen Selbstbedienungskassen eingeführt – ein Feldversuch, um das Potenzial der Selbstbezahler-Kassen im Billig-Discouter-Segment auszuloten.

Ob das wirklich eine so gute Idee war, halte ich für sehr fraglich. Weil die Manipulation von SB-Kassen das Unrechtsbewusstsein vieler Kunden nicht zu verletzten scheint, ist das Scannen von billigen Waren statt der wirklich gekauften teuren Produkte in Großbritannien zu einer Art Volkssport geworden. Und die Erfahrung zeigte schnell: Offenbar ist das auch in Deutschland nicht anders. Was dazu führte, dass der größte Teil der frisch eingebauten SB-Kassen jetzt routinemäßig gesperrt ist. Nur zwei bis drei dieser Kassen wird bei Bedarf geöffnet, und daneben steht eine Angestellte, die den Kunden auf die Finger sieht. Damit nicht genug: Zusätzlich wurden im Laden auch Warensicherungsetikette eingeführt.

Und wozu der ganze Aufwand? Vermutlich, um die Personalkosten um einige, wenige Prozent zu drücken, was aber noch nicht einmal gelingt, denn die Maßnahme sorgt eigentlich eher für einen höheren Personalbedarf – die zur Bewachung der SB-Kassen abgestellten Kollleginnen fehlen aber in der Regel an anderer Stelle.

Technisch gesehen steckt aber in dem SB-System eine ganze Menge Know-how, das tatsächlich das Leben der Menschen angenehmer machen könnte – selbst in den Etiketten für den Diebstahlsschutz. Die unscheinbaren, streifenförmigen akustomagnetischen Etiketten sind eigentlich kleine, technische Wunderwerke. Sie enthalten Plättchen amorpher Metalle, für deren Herstellung eine über tausend Grad heiße Schmelze auf eine schnell rotierende Walze gesprüht wird, um ein wenige Mikrometer dünnes Band zu erzeugen. Ein Verfahren, das weltweit nur extrem wenige Unternehmen beherrschen.

Was könnte man mit all diesen Erkenntnissen, dem Wissen um Verfahren, Hardware und Software alles anfangen? Mir würde da schon etwas besseres einfallen, als zu versuchen, einige ohnehin schon schlecht bezahlte Stellen wegzurationalisieren. Man dürfte die Richtung des technischen Fortschritts dafür allerdings nicht den Marktkräften überlassen.

(wst)