Fitness- und Selftracking: Segen und Fluch

Immer mehr Menschen überwachen ihren Körper, um sicherzustellen, dass sie ausreichend Bewegung oder Schlaf bekommen. Ein Neurologe glaubt, dass sie das Gegenteil davon erreichen.

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Schlafende Katze

Der Schlaf der Gerechten.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 4 Min.

Quantified Self ist längst im Mainstream angekommen. Die Überwachung des eigenen Körpers mittels Fitnesstracker oder Computeruhr kostet nicht viel und bietet jede Menge Möglichkeiten. Übergreifendes Ziel dabei ist stets, die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern – oder zumindest die Gesundheit des Nutzers zu erhalten.

Doch was macht das ganze Tracking mit uns selbst? Ist es wirklich so hilfreich, wie die Hersteller versprechen? Oder macht es uns nur (noch) nervöser, sorgt für mehr Stress, führt zu Fehldiagnosen und kann sogar schädlich sein, von der Datenschutzproblematik einmal ganz abgesehen?

Der Neurologe und Schlafstörungsspezialist Guy Leschziner hat auf dem Wissenschaftsfestival im britischen Cheltenham nun aus seiner Praxis geplaudert. Gegenüber dem "Guardian" teilte er mit, im Rahmen seiner Arbeit habe er es mittlerweile mit Patienten zu tun, bei denen der Einsatz von Schlaftrackern sogar zu deutlichen Schlafstörungen geführt habe. Die Nutzer kämen stets mit den ermittelten Daten zu ihm und seien auch nicht bereit, entsprechende Apps von ihren Handys zu löschen, sagte er. Die meisten Programme unterlägen keinen klinischen Studien und überwachten nur Bewegungen, was für eine Analyse der Schlafqualität sowieso nicht ausreicht.

Er habe mittlerweile eine "zynische Haltung" zum Schlaftracking entwickelt. Wer müde und wenig erfrischt erwache, habe ein Problem. Wer dagegen gut ausgeruht aus dem Bett steigt und tagsüber wach bleibt, bekomme genügend schlaf. "Und dann braucht man keine App, um einem das zu sagen." Fallstudien aus den USA haben dem Syndrom, dass Schlaftracking Schlaflosigkeit verursachen kann, sogar einen Namen gegeben: Orthosomnia, also selbst induzierte Insomnie.

Sporttracking muss ebenfalls nicht immer richtig sein. Gibt ein Gerät unerreichbare Ziele vor, um die nächste virtuelle Medaille zu erreichen, kann dies zu Frustrationen und sogar leichten Depressionen frühen. Hinzu kommt, dass die Technik nicht immer mitspielt. Wer seine schwer erkämpfte Kalorien- oder Schrittzahl plötzlich nicht angerechnet bekommt, kann schon dazu geneigt sein, seinen Tracker oder die Computeruhr an die Wand zu werfen.

Zunehmend beliebt sind auch Schummeleien. So gibt es in vielen Ländern mittlerweile Versicherungstarife, bei denen man seine Aktivitätsdaten an die Gesellschaft übermitteln soll, um Rabatte zu erhalten. Doch wie jeder weiß, sind Fitnesstracker nicht unfehlbar. Einfache Geräte sowieso nicht, aber auch eine teure Apple Watch lässt sich durch schlichtes Hin- und Herschwingen der Hand dazu bringen, angebliche Bewegungen aufzuzeichnen. So führt das einmal in der Stunde geforderte Aufstehen für eine Minute (12 Mal in 24 Stunden) bei manchem User dazu, dass er 10 Minuten vor dem nächsten Stundensignale wild sein Handgelenk schüttelt.

Aus China wurden Videos bekannt, die automatisierte "Faker" für Trackingsysteme zeigen. Dabei wird das Gerät in eine Halterung eingespannt, die sich dann mechanisch bewegt, um Schritte zu simulieren. Auch hier scheint es darum zu gehen, der Versicherung vorzugaukeln, dass sich der Nutzer ausreichend viel bewegt, was ja der Gesunderhaltung (und damit geringeren Zahlungen) dienen soll.

Und Quantified Self hat noch ein anderes Problem: Es bleibt unbewiesen, ob ein bestimmtes Fitnesslevel wirklich für ein längeres Leben sorgt. An der Universität von Bergen in Norwegen wurde gerade eine frische Doktorarbeit eingereicht, die sich mit der Frage beschäftigt, ob übergewichtige Menschen, die dennoch sportlich sind, ein geringeres Risiko für Herzkrankheiten haben. In der relativ kleinen Probandengruppe (620 Personen) ergab sich, dass Übergewicht offenbar eine größere Rolle bei kardiovaskulären Erkrankungen spielt als der persönliche Fitnesszustand.

(bsc)