Barrierefreiheit: Stolpersteine bei mobilen Anwendungen überwinden, Teil 1

Entwickler mobiler Anwendungen müssen besonders auf den barrierefreien Zugang zu ihren Apps achten. Dabei hilft es, die entscheidenden Herangehensweisen ebenso zu kennen wie potenzielle Hindernisse.

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Barrierefreiheit: Stolpersteine bei mobilen Anwendungen überwinden, Teil 1

(Bild: Shutterstock)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Sergey Yurchenko
  • Theresa Jordan
  • Martin Kinting
Inhaltsverzeichnis

Beim Entwickeln mobiler Anwendungen ist Barrierefreiheit ein wichtiges Thema, weil ein Alltag ohne Smartphone für viele Nutzer nicht denkbar ist und sie auf einige mobile Apps angewiesen sind. Unzureichende Optimierung kann dazu führen, dass einzelne Funktionen schlecht erreichbar bis unzugänglich bleiben. Dadurch verschlechtert sich die Benutzererfahrung erheblich. Dabei ist die Nutzerakzeptanz eines Produkts ein wichtiger Indikator, der in der Wettbewerbssituation am Softwaremarkt schnell entscheidet, ob Anwender zu zufriedenen Kunden werden oder lieber zu besseren Alternativen der Konkurrenz greifen.

Damit alle Nutzer sich gleich behandelt fühlen können, existieren Konzepte mit dem Ziel eines weitgehend barrierefreien Zugangs zu allen Lebensbereichen. Bei mobilen Anwendungen ist Barrierefreiheit zwar kein neues Thema, aber es herrscht eine gewisse Unsicherheit bei manchen Entwicklern. Im Folgenden finden sich Antworten auf typische Fragen wie "Für wen ist Barrierefreiheit primär gedacht?", "Welche Besonderheiten in Bezug auf Barrierefreiheit hat der mobile Anwendungsfall?" oder "Wo sollen Entwickler anfangen, um ihre Anwendung weitgehend barrierefrei zu gestalten?".

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Barrierefreiheit: Stolpersteine bei mobilen Anwendungen überwinden

Die moderne Gesellschaft setzt eine aktive Teilnahme in unterschiedlichen Bereichen voraus, sei es im Gesundheits- und Versicherungswesen, beim Banking, bei der Kommunikation und Mobilität im Alltag, in Bildung und Politik. Die Gesellschaft ist ebenso heterogen wie die genannten Bereiche: Sie umfasst Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen, Bildungsgraden und Berufsausrichtungen, Lebenssituationen und Präferenzen. Die Vielfalt wird von weiteren Merkmalen körperlicher Natur ergänzt. Dabei sind physische und psychische Eigenschaften von Menschen zu berücksichtigen, die bei einzelnen Personen unterschiedlich ausgeprägt bis eingeschränkt sein können. Im letzten Fall spricht man von einer Einschränkung oder Behinderung.

Die Menge von Einschränkungs- oder Behinderungsarten lässt sich für die Nutzung von Anwendungen auf vier Kategorien aufteilen:

  • sehbeeinträchtigte Nutzer
  • blinde Nutzer
  • motorisch beeinträchtigte Nutzer
  • gehörgeschädigte Nutzer

Einschränkungs- oder Behinderungsarten sind in temporär und permanent zu unterteilen. Während eine vorübergehende Verletzung eine temporäre, motorische Einschränkung mit sich bringen kann, verursacht eine altersbedingt auftretende Sehschwäche eine dauerhafte Beeinträchtigung. Bestimmte äußerliche Bedingungen wie schlechte Lichtverhältnisse oder eine die Bewegung einschränkende Arbeitskleidung können weitere Einschränkungen verursachen. Die Beispiele zeigen, dass das sensible Thema alle Menschen im Laufe ihres Lebens mehr oder weniger betrifft oder betreffen wird. In der Praxis bedeuten solche Einschränkungen und Hindernisse eine Barriere für Menschen.

Da Nutzer mit Einschränkungen und Behinderungen ihre mobilen Geräte überdurchschnittlich intensiv benutzen, ist die Bereitstellung eines barrierefreien Nutzererlebnis von hoher Relevanz. Der mobile Anwendungsfall unterscheidet sich vom Desktop durch einen anderen Nutzungskontext und variierende äußerliche Bedingungen. Mobile Anwendungen führen Funktionen meist schnell und präzise aus, um konkrete Aufgaben mit minimalem Aufwand seitens des Nutzers zu erledigen. Unterschiedliche Licht- und Geräuschkulissen, Abstand und Betrachtungswinkel zwischen mobilem Gerät und den Augen des Nutzers, Bedienung mit einer oder mit beiden Händen, Ablenkungs- und Störfaktoren wie Straßenverkehr oder fehlender Netzempfang – viele Faktoren, auf die Entwickler keinen Einfluss haben, können die Nutzung mobiler Anwendungen erschweren und Barrieren begünstigen.

Barrieren lassen sich allerdings vermeiden, indem man während der Konzeption und Entwicklung auf potenzielle Ursachen achtet und deren Entstehung verhindert. Zu den häufigen Ursachen für Barrieren, die das Benutzererlebnis negativ beeinträchtigen können und einigen Nutzergruppen den Zugriff zu mobilen Anwendungen erschweren, gehören:

  1. Wegen wachsender Bildschirmgrößen der mobilen Geräte sind die dadurch ebenfalls häufig vergrößerten Benutzeroberflächen nicht überall gleich leicht zu erreichen (die sogenannte "The Thumb Zone") – als Folge haben unter anderem ältere Nutzer Schwierigkeiten mit dem Erreichen einiger Bereiche der Bildschirmoberfläche, ohne ständig umgreifen zu müssen.
  2. Interaktive Elemente auf der Benutzeroberfläche sind zu nah beieinander platziert oder klickbare Flächen sind zu klein, wodurch sich Nutzer häufiger vertippen oder bestimmte Schaltflächen nur schwer auswählen können.
  3. Ungenügende Kontraste wirken auf die Augen ermüdend und können ein Hindernis für sehschwache Nutzergruppen darstellen. Zudem leidet dabei die Lesbarkeit in der App stark.
  4. Bei der Textvergrößerung über die Systemeinstellung können Elemente verrutschen und für Orientierungslosigkeit sorgen. Noch ungünstiger ist, wenn die Systemeinstellung keine Auswirkung auf die Texte in der App hat.
  5. Beim Navigieren mit Gesten (Schaltersteuerung, Voice Over oder TalkBack) erfolgt die Auswahl in einer ungewünschten beziehungsweise ungünstigen Reihenfolge. Bei modalen Views kann es vorkommen, dass die darauf liegenden Elemente nicht auswählbar sind und die Navigation weiter auf der darunterliegenden Ebene stattfindet. Solche Modal Views sind umständlich bis unerreichbar.
  6. Die Sprachausgabe versagt häufig wegen passender Bezeichnungen der Elemente. Wenn nicht alle Felder auf Sprachausgabe eingestellt sind, lassen sich Unterseiten und Funktionen nicht aufrufen. Fehlende oder nicht eindeutig benannte Beschriftungen von interaktiven Elementen erschweren die Navigation für blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen, wenn beispielsweise ein Button ein Piktogramm enthält, das mit der Beschriftung "pictures/buttons/123456.jpeg" hinterlegt ist. Auch fehlende Formularbeschriftungen blockieren die Nutzung. Auf dem Desktop per Mouseover erreichbare Inhalte werden vom Screenreader häufig nicht erkannt und bleiben blinden Nutzern verborgen. Wenn sich im Menü durch Berühren eines Menüpunkts selbstständig eine neue Seite öffnet, beginnt der Screenreader die neue Seite, anstatt die Menüpunkte vorzulesen. Pop-ups und Werbung stören die Sprachausgabe oder stoppen sie sogar: Ein Werbebanner inmitten eines Texts wird nicht nur als nervig empfunden, sondern beendet häufig das Vorlesen komplett. Captchas sind unüberwindbar und verhindern sogar mit Audio häufig ein Weiterkommen.
  7. Die Umsetzung von Sprachbefehlen ist unter anderem die Kombination aus deutschen Befehlen und englischen Titeln oder bei Eigennamen fehlerhaft.
  8. Eine zu hohe Komplexität von Informationen und Funktionen blockiert Verständnis und Bedienbarkeit.
  9. Es mangelt an Fehlertoleranz: wie der zusätzlichen Abfrage einer Bestätigung vor wichtigen Aktionen. Oft ist nicht möglich, Aktionen rückgängig zu machen.
  10. Fehlen der kontextbezogenen Hilfe wie der Erläuterung von Fehlern können zum Fehlverständnis von Aufforderungen führen.
  11. Ein schwieriger Satzbau, zweideutige Begriffe oder Fachsprache sorgen für Missverständnisse und Unsicherheit während der Nutzung.
  12. Hilfestellung über alternative Kanäle.

Jede Kategorie hat ihre spezifischen Anforderungen an mobile Anwendungen und Software im Allgemeinen. Konkret sind folgende Kriterien je nach Nutzergruppe zu erfüllen:

Kriterien Kategorien
Sehbeeinträchtigung Blindheit Motorische Beeinträchtigung Gehörschaden
1 The Thumb Zone +
2 Abstände und Elementgröße + +
3 Kontrast +
4 Schriftvergrößerung +
5 Navigation (z.B. TalkBack, Voice Over, Schaltersteuerung):
- Wechsel zwischen Inhaltsblöcken, Überschriften, Elementen, Wörtern, Zeichen
- Hidden Navigation
- Modal Views und vielschichtige Oberflächen korrekt auswählen
+ +
6 Sprachausgabe (Benennung von Überschriften, Buttons, Eingabefeldern durch Labels, Hinweistexten, Grafiken, Fehlermeldungen) + +
7 Spracheingabe + +
8 Komplexität + +
9 Fehlertoleranz + + +
10 Kontextabhängige Hilfen +
11 Leichte und einfache Sprache +
12 Alternative Kontaktmöglichkeiten + +

Die Beispiele zeigen, dass Ursachen für Barrieren auf den unterschiedlichen Anwendungsebenen Architektur, Inhalt, Konzept, Design, Implementierung liegen können. Barrierefreiheit ist ein Thema, das Teamarbeit erfordert: Neben Konzeptions- und Designprozessen, bei denen Nutzer und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen sollen, ist die qualitative Implementierung durch das Entwicklungsteam von entscheidender Bedeutung. Letztlich stellt sich die Frage, ob der Aufwand sich lohnt und ob sich die Anpassungen für Unternehmen auszahlen.

Neben dem Erreichen von Unternehmenszielen und Zufriedenheit der Nutzer sind die damit verbundenen Kosten ein weiterer entscheidender Punkt während der Softwareentwicklung. Allerdings ist der erreichbare Nutzen weit höher und der Aufwand meistens geringer als gedacht. Das liegt daran, dass die mobilen Betriebssysteme iOS und Android standardmäßig viele passende Funktionen an Bord haben.