Reserven verfrühstückt

Die schwankender Einspeisung erneuerbarer Energien erfordert viel Ausgleichsenergie – sollte man meinen. Tatsächlich aber bringen politische Rahmenbedingungen das Stromnetz viel stärker an seine Grenzen. Jetzt wurde ein entscheidender Faktor geändert.

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Gibt es zu viel oder zu wenig Strom im Netz, muss sogenannte Regelenergie einspringen. So weit, so einfach. Der Markt für diese Regelenergie ist jetzt gewaltig in Bewegung gekommen. In der Prosa der Bundesnetzagentur liest sich das so:

"War bisher eine Bezuschlagung am Leistungsmarkt Voraussetzung für die Erbringung von Regelarbeit, kann nun Regelarbeit von sämtlichen präqualifizierten Anbietern erbracht werden und zwar – im Gegensatz zum bisherigen Ausschreibungsdesign – unabhängig von einer Teilnahme am Leistungsmarkt."

Alles klar?

Dass alles, was mit Regelenergie zu tun hat, so kompliziert klingt, hat zwei Ursachen. Erstens: Es ist kompliziert. Zweitens: Der Branchenjargon macht es noch komplizierter. Das liegt an der für Außenstehende kontraintuitiven Verwendung der Begriffe "Leistung" und "Arbeit". "Regelleistung" bezeichnet nicht etwa erbrachte Leistung, sondern nur bereitgehaltene (gehandelt in Megawatt). Tatsächlich gelieferte Energie heißt "Arbeit" (gehandelt in Megawattstunden). Die entsprechenden englischen Begriffe lauten übrigens "Capacity" beziehungsweise "Energy". Das klingt schon intuitiver.

Was also hat sich nun getan? Bisher ist es so: Die "Bilanzkreisverantwortlichen" (also etwa Stadtwerke oder andere Stromversorger) schreiben die benötigte Menge an Regelleistung aus. Die günstigsten Anbieter bekommen den Zuschlag und erhalten eine gewisse Vergütung dafür, dass sie die nötige Leistung vorhalten. Anschließend geben diese Anbieter Gebote dafür ab, zu welchem Preis sie die Energie bei Bedarf tatsächlich liefern. Da die Bilanzkreisverantwortlichen zur Sicherheit meist weitaus mehr Regelenergie ausschreiben, als sie dann tatsächlich benötigen, gehen die teuersten Gebote in der Regel leer aus.

Manchmal aber eben auch nicht. So geschehen etwa am 17. Oktober 2017. Ein "sehr mächtiger, sehr großer und deshalb zweifelsohne konventioneller Anbieter" habe, so der auf Erneuerbare spezialisierte Energiehändler Next Kraftwerke, "eine riesige Gebotsmenge mit der Arbeitspreis-Schnapszahl von 77.777 Euro pro MWh platzieren können". Sie musste tatsächlich abgerufen werden. "In der Folge bedeutet dies bei der nächsten Abrechnung für Stadtwerke und EVUs, dass die Ausgleichsenergiepreise bei ca. 25.000 Euro pro MWh liegen werden – irrwitzige Summen für einen Abrechnungsposten, dessen Preis pro MWh sich sonst im zweistelligen bis niedrigen dreistelligen Eurobereich bewegt."

Ursache war das zweistufige Design der Ausschreibung: Da es in der zweiten Runde nur noch einen exklusiven Bieterkreis gab, konnten mächtige Marktteilnehmer hohe Preise durchsetzen. Um das zu verhindern, führte die Bundesnetzagentur 2018 das "Mischpreisverfahren" ein, bei dem die Gebote für Leistungs- und Arbeitspreise darüber entscheiden, welche Anbieter den Zuschlag bekommen. Dies ließ die Leistungspreise steigen und die Arbeitspreise sinken – mitunter auf das Niveau des normalen Börsenstroms.

Für Bilanzkreisverantwortliche gab es also weniger Anreiz, vorausschauend zu planen und Strom rechtzeitig einzukaufen. Etwaige Lücken ließen sich ja jederzeit preiswert durch Regelenergie stopfen. Diese Reserven sind allerdings für den Notfall gedacht und nicht dafür, im Alltagsgeschäft verfrühstückt zu werden. Dies brachte das Stromnetz an drei Tagen im Juni 2019 an den Rand des Blackouts.

Zudem monierten Kritiker wie Next Kraftwerke, dass das Mischpreisverfahren große Anbieter bevorzuge und den Preis für Regelenergie insgesamt in die Höhe treibe. Pro Haushalt, schätzt der Kölner Energiehändler, könnten ein- bis niedrige zweistellige Eurobeträge fällig werden.

Next Kraftwerke klagte 2018 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf gegen die Mischpreisregelung und gewann. Seitdem gilt wieder die alte Regelung, ergänzt um eine Preisobergrenze von 10.000 Euro pro Megawattstunde für Regelarbeit.

Anfang Oktober hat die Bundesnetzagentur nun bekanntgegeben, ein gänzlich neues Marktdesign einzuführen: Die komplette Trennung der Märkte für Regelleistung und Regelarbeit. Damit setzt sie EU-Vorgaben um. Im Mittelpunkt steht dabei der Markt für Regelarbeit. Hier darf nun jeder seine Dienste anbieten, ohne sich vorher verpflichten zu müssen, eine bestimmte Leistung vorzuhalten. Das soll für mehr Wettbewerb sorgen. Daneben gibt es weiterhin einen Markt für Regelleistung – als Absicherung, falls es nicht genug Regelarbeit geben sollte.

Jan Aengenvoort, Unternehmenssprecher von Next Kraftwerke, sieht die neue Regelung positiv. Damit bekämen kleinere Akteure wie Biogas-, Wasser- oder Blockheizkraftwerke bessere Möglichkeiten, ihren Strom als Regelenergie zu vermarkten. Wie sich das auf die Stromrechnung auswirke, lasse sich jetzt noch nicht prognostizieren. Generell seien die Kosten für Regelenergie aber seit Jahren rückläufig – trotz eines höheren Anteils Erneuerbarer im Netz. Ursache dafür seien vor allem bessere Prognosen durch Big Data und Maschinenlernen.

(grh)