"China Cables": Von Algorithmen ins Internierungslager geschickt

Seit Jahren gibt es Berichte über die massive Unterdrückung der Uiguren im Westen Chinas. Geheimdokumente geben nun Einblicke – auch in den Beitrag von Technik.

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"China Cables": Von einer Software ins Internierungslager geschickt

(Bild: JoaoCachapa/Shutterstock.com)

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Mehrere Leaks aus China geben bedrückende Einblicke in Chinas massive Unterdrückung der Uiguren in der westchinesischen Region Xinjiang und in welchem Maße die Sicherheitskräfte dafür moderne Technik nutzen. So gibt ein Algorithmus vor, wer festgenommen oder interniert werden soll und nicht nur Smartphones werden umfassend überwacht. Das berichtet das International Consortium of Investigative Journalism (ICIJ), dem die sogenannten "China Cables" zugespielt wurden.

Details dazu wurden von mehr als einem Dutzend Medien in 14 Staaten veröffentlicht. Während mehrere Experten demnach von der Echtheit der Dokumente überzeugt sind, spricht die chinesische Botschaft in Großbritannien dem Guardian zufolge von "puren Märchen und Fake News".

Die chinesische Minderheit der Uiguren ist mehrheitlich muslimischen Glaubens und spricht eine Turksprache. Seit Jahren sind sie nicht nur in ihrer Heimat das Ziel massiver Unterdrückung durch den chinesischen Zentralstaat. Bis zu eine Million Uiguren soll in sogenannten "Umerziehungslagern" eingesperrt sein. Chinas Führung spricht von präventiven Maßnahmen zur "Verhinderung von Terrorismus" und verbittet sich jedwede Einmischung aus dem Ausland. Mehrere Leaks aus dem chinesischen Staatsapparat ermöglichen nun aber weitere Einblicke. Sie scheinen die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Die Investigativjournalisten des ICIJ sprechen von der "umfangreichsten Masseninternierung einer ethnisch-religiösen Minderheit seit dem Zweiten Weltkrieg".

Nachdem Human Rights Watch im Mai die Analyse einer App vorgestellt hatte, mit der Polizisten in Xinjiang eine gigantische Datenbank mit Informationen über die Bürger befüllen, rückt diese Integrated Joint Operations Platform (IJOP) nun in den Fokus. Das ICIJ macht vier interne Bulletins öffentlich, die sich auf diesen Algorithmus beziehen. In einem vom 25. Juli 2017 heißt es beispielsweise, dass die IJOP Behörden in Xinjiang innerhalb von sechs Tagen auf "24.412 verdächtige Personen" aufmerksam gemacht habe. 706 davon seien festgenommen worden und 15.683 Individuen seien "zu Weiterbildung und Training" geschickt worden, also offenbar in eines der "Umerziehungslager". Für die Differenz der Zahlen werden mehrere Gründe aufgeführt, wie weggezogene Zielpersonen oder die Nutzung falscher Dokumente – aber auch, dass Beamte und Studenten "schwierig zu handhaben" seien.

In einem anderen Dokument vom 16. Juni 2017 wird aufgeschlüsselt, dass genau 1535 Menschen aus Xinjiang mit einer anderen Staatsangehörigkeit ein Visum für China beantragt haben. Die sollen demnach "analysiert" werden, besonders jene 637 Personen, die im vergangenen Jahr auch ins Land gereist seien und jene 75, die als "im Land aktiv" eingestuft wurden. Wer seine Staatsbürgerschaft nicht aufgegeben hat und für wen "der Verdacht auf Terrorismus nicht ausgeschlossen werden kann" solle in eine "Umerziehungslager" gebracht und untersucht werden. In einem weiteren Punkt wird detailliert aufgelistet, dass 4341 Personen aus Xinjiang Dokumente in einer Botschaft oder einem Konsulat erhalten haben. Sollten sie das Land zu verlassen suchen, drohe ihnen ebenfalls der Arrest.

Ein drittes Dokument nimmt Bezug auf eine Filesharing-App namens Zapya, die den Datenaustausch direkt zwischen Smartphones ermöglicht und deshalb in Gebieten ohne Internetzugang besonders beliebt ist. Das geheime Dokument listete Mitte 2017 auf, dass diese App – über die den Investigativjournalisten zufolge gern auch religiöse Texte weitergegeben werden – von genau 1.863.310 Personen in Xinjiang genutzt wurde. Die Behörden wussten demnach genau, welche dieser Nutzer das Land für längere Zeit verlassen haben, oder ihr Smartphone mehr als drei Mal komplett ausgeschaltet haben. Mit solchen Kategorien wird demnach genau vorgegeben, wer vernommen und danach möglicherweise in ein Lager gesteckt werden soll. Wie die Behörden an die Nutzerzahlen gekommen sind, steht in dem Dokument nicht.

Die Analysen von Human Rights Watch hatten bereits nahegelegt, wie allumfassend das chinesische Überwachungssystem in Xinjiang ist. Die Menschenrechtler hatten eine App untersucht, in die örtliche Polizisten Daten zu einzelnen Bürgern eintragen. Das umfasse etwa das Autokennzeichen, die erfahrene Ausbildung, die Telefonnummer, die Blutgruppe, die Religion und die Ausprägung des religiösen Glaubens ("durchschnittlich" oder "stark"), aber auch Daten zu längeren Auslandsaufenthalten, zum Verzicht auf Smartphones, über zu viele Nachkommen, "abnormalen Energieverbrauch" oder das Sammeln von Spenden für Moscheen. Die China Cables zeigen nun, dass die Daten tatsächlich per Software ausgewertet werden, um vorzugeben, wer festzusetzen ist.

Den nun veröffentlichten Dokumente zufolge sollen Spezialgruppen zur Sammlung der Daten sogar "in Haushalte eindringen" und "gründlich überprüfen". "Zu problematischen Personen, die sich vor Ort befinden, ist eine Rückmeldung über die ergriffenen Maßnahmen zu geben; zu problematischen Personen, die sich nicht vor Ort befinden, ist anzugeben, wo sie sich befinden, konkret, ob sie sich im Ausland, außerhalb von Xinjiang oder innerhalb von Xinjiang befinden, außerdem sind die Verwaltungs- und Kontrollmaßnahmen anzugeben, die gegen sie ergriffen wurden", heißt es weiter.

Außer den Einblicken in die technischen Grundlagen umfassen die geheimen Unterlagen etwa eine Anweisung des damaligen obersten Sicherheitschef von Xinjiang, derzufolge Internierten selbst bei alltäglichen Dingen wie dem Toilettengang, beim Schlafen und beim Unterricht zu überwachen sind. Das berichtet der NDR, der die Dokumente ebenfalls vorab auswerten konnte. Auch von Züchtigungsmaßnahmen sei die Rede. Mit einem Punktesystem sollen die einzelnen Internierten bewertet und selbst kleine Vergehen bestraft werden. Vor wenigen Tagen hatte außerdem die New York Times unter Berufung auf ein anderes Leak berichtet, dass das harte Vorgehen gegen die Muslime von Chinas Präsident Xi Jinping persönlich angeordnet worden sei. Dabei solle "keine Gnade" gezeigt werden, zitiert die Zeitung eine Rede des Staatschefs aus dem Jahr 2014.

Unter Berufung auf die "China Cables" spricht der China-Experte Adrian Zenz gegenüber dem NDR nun von einer "systematischen Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit" und einem "kulturellen Genozid". Die Dokumente belegen für ihn demnach "im Detail, dass die Regierung seit 2017 eine Massenkampagne der Umerziehung in dieser Region durchführt, unter dem Namen der Berufsbildung". Gleichzeitig, so der Experte, "geben die Dokumente aber auch eine schockierende Gewissheit, dass das Ganze eine systematische und vor allem eine geheime Kampagne ist". Letzteres ist mit dem neuerlichen Leak spätestens jetzt nicht mehr der Fall. (mho)