Psychologin: "Betriebsblind für das eigene Talent“

Die eigenen Stärken zu kennen ist ein wichtiger Faktor für die Karriere. Doch genau da hapert es oftmals, sagt die Psychologin Madeleine Leitner.

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Psychologin: "Betriebsblind für das eigene Talent“

(Bild: fotoinfot/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Ilg
Inhaltsverzeichnis

Die Aufgabe sollte auf den Menschen angepasst sein und sie nicht in den falschen Job verbogen werden, sagt die Psychologin und Karriereberaterin Madeleine Leitner. Doch dafür muss man selbst oder Chefs Talente erkennen – was die wenigsten können.

heise online: Frau Leitner, es heißt, dass sich der Arbeitsmarkt dreht und aus einem Angebots- ein Nachfragemarkt wird …

Madeleine Leitner: Es ist in manchen Berufen wie IT-Fachpersonal oder in Pflegeberufen schon zu sehen, dass es mehr Stellenangebote gibt als Bewerber. In anderen Berufen hat sich das Blatt bereits wieder gewendet: Noch vor ein, zwei Jahren klagten Branchenverbände und Unternehmen über einen massiven Ingenieursmangel. Heute können Absolventen dieser Fachrichtung froh sein, wenn sie bei einer Zeitarbeitsfirma unterkommen.

heise jobs – der IT-Stellenmarkt

Zu Arbeitsplätzen und Stellenangeboten in der IT-Branche siehe auch den Stellenmarkt auf heise online:

So rosig sind also die Zeiten am Arbeitsmarkt nicht, selbst für die hochgelobten MINT-Leute?

Die Nachfrage nach bestimmten Fachkräften verläuft in Wellen. Mal sind die einen gefragt, dann die anderen. Mein Eindruck ist der, dass in der Produktion die größten Nachfrageschwankungen bestehen, wie die Automobilbranche aktuell zeigt – bei Dienstleistern wie Juristen weniger. Wenn es bei denen mit Arbeit mau wird, schaffen die sich selbst Nachfrage, wie das Thema Compliance belegt. Um ein drittes Beispiel zu nennen: Digitalisierung ist ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend, der dazu führt, dass auf lange Zeit Arbeit für IT-Fachpersonal da ist.

Mit der Konsequenz, dass sich die ihren Job frei aussuchen können?

Die jungen Leute heute sind es schon von ihrer Geburt an gewohnt, sich das beste Stück vom Kuchen zu nehmen. Das betrifft nicht nur Informatiker, sondern alle anderen auch. Sie haben auch klare Vorstellungen davon, was für sie besser ist. Das ist weniger viel Geld, als mehr viel Freizeit.

Das hört sich nach verwöhnt an, nach Egoismus und wenig Biss. Wenn es mal hart auf hart kommt, werfen sie wohl schnell die Flinte ins Korn und kündigen?

Ja, das tun sie, wenn ihnen etwas nicht passt. Manchmal kommen sie einfach am nächsten Tag nicht mehr, und das ist kein Einzelfall. Verhalten ist Erziehungssache: Kinder sind heute meistens Wunschkinder, haben alles, bekommen alles. Aus Sicht ihrer Eltern sind sie oft genial, viele halten ihre Sprösslinge für hochbegabt und überhaupt den Nabel der Welt. Warum sollen sie sich anstrengen?

Vielleicht weil sie doch nicht so genial sind, wofür sie gehalten werden. Weil auch sie Stärken und Schwächen haben. Wie können sie ihre wahren Talente erkennen?

Auf keinen Fall mit Tests im Internet, weil die wenig wissenschaftlich fundiert sind. Das meiste davon ist Quatsch. Manche Arbeitgeber versuchen in Assessment Centern herauszufinden, wie Kandidaten ticken. Und Mitarbeiter werden regelmäßig von Vorgesetzten beurteilt, von denen es die allermeisten nie gelernt haben. Nützlich kann es sein, Freund zu fragen, denn die haben einen neutralen Blick. Der Nachteil all dieser Methoden: es sind Fremdbeurteilungen. Manche Menschen können solche nachvollziehen, andere nicht.

Wie arbeiten Sie?

Mit einem Verfahren aus den USA, das verlässlich Menschen dabei hilft, ihre Talente nachvollziehbar zu erkennen. Ausgangspunkt dabei ist die einfache Tatsache, dass Menschen für ihre größten Stärken blind sind. Sie gehen ihnen einfach so leicht von der Hand, dass sie nicht einmal merken, dass sie besondere Stärken darin haben. Das Verfahren basiert auf Episoden aus dem Leben der Personen. Sie schreiben Geschichten auf, bei denen ihnen irgendetwas einmal Freude gemacht hat. Ich analysiere mit ihnen gemeinsam die Texte, um Fähigkeiten herauszufinden, die in der Geschichte vorkamen und die die Klienten selbst nicht erkannt haben. Die Methode ist also evidenzbasiert, immer nachvollziehbar und nicht spekulativ.

Mit diesem Wissen um ihre Stärken können sie sich dann einen passenden Job suchen?

Im Idealfall, falls es den Traumjob überhaupt gibt. Meine zentrale Botschaft ist die: Unternehmen sollten den Job an den Menschen anpassen und ihre Mitarbeiter nicht in den falschen Job verbiegen. Wer erst einmal verbogen ist, ist nicht mehr gut und wird vielleicht am Ende sogar krank.

Das lässt sich wie vermeiden?

Erst einmal die Stärken herausfinden und die Rahmenbedingungen der Arbeit so gestalten, dass sie Menschen in ihren Eigenheiten unterstützt.

Und wie sieht das in der Praxis aus?

Ganz einfach: Ein Mitarbeiter, der Morgenmuffel ist, kann nicht schon morgens um 7:00 Uhr freundlich gegenüber Kunden sein. Das klappt drei, vier Tage, am fünften ist er wieder mufflig – weil es gegen seinen Rhythmus ist, früh aufzustehen. Oder Hochbegabte in Teams mit Normalsterblichen zu quälen. Die Aussage "im Team ist man immer besser als allein" trifft auf solche Menschen nicht zu. Sie sind mit ihren Gedanken sehr schnell und finden im selben Tempo Lösungen. Stundenlange Diskussionen im Team quälen sie unsäglich. Besser ist es, sie arbeiten mit ihresgleichen zusammen oder allein. Ansonsten profitiert die Firma nicht von allen Talenten und beide Seiten sind unglücklich.

Wie profitiert das Unternehmen am meisten?

Indem Vorgesetzte Aufgaben zuordnen, in denen Mitarbeiter ihre Talente einbringen können. Voraussetzung dafür ist, dass sie die überhaupt erkennen können. Manche Chefs sind gezwungen, weil sie es nicht können, der Gauß’schen Normalverteilung in ihren Beurteilungen zu folgen. Sie sind froh für jeden schlechten Mitarbeiter, weil sie dann gute auch gut bewerten können. Eigentlich ein perverses Beurteilungssystem, das leider bei uns Überhand hat.

Gibt es Berufsgruppen, die sich leichter oder schwerer damit tun, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen?

Nein, das hat weder mit dem Beruf, der Branche und sogar nichts mit dem Grad der Erfahrung zu tun. Das wird bestimmt durch die Person selbst und daher immer individuell. Ich betreue aktuell einen Klienten, der ein extrem aufwändiges Verfahren bei einem bekannten Automobilhersteller durchlaufen hat, das über mehrere Monate ging. Mehrfach durchlief er mehrtägige Assessment Center und meinte, seine Fähigkeiten gut zu kennen. Er lernt gerade, dass in ihm Dinge stecken, von denen er keine Ahnung hat – obwohl sie für aufmerksame Menschen völlig offensichtlich sind. (axk)