Klimawandel und Kapitalismus: "Nicht mehr blind dem Markt vertrauen"

Interview mit dem "grünen" Finanzinvestor Jochen Wermuth über Maßnahmen gegen die "Ausrottung der Menschheit"

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Jochen Wermuth ist bekannt für Investitionen in ökologische und klimafreundliche Unternehmen ("der radikalste Öko im Bunde", Manager-Magazin). Er spendete erhebliche Summen für die Grünen und er berät die Bundesregierung im Rahmen des "Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung" (KENFO). Telepolis sprach mit ihm.

Herr Wermuth, wir sind in Berlin-Mitte. Wie finden Sie die Luft hier?

Jochen Wermuth: Schlechter als auf dem Land, aber gut für eine Großstadt.

Was motiviert Sie zu handeln?

Jochen Wermuth: Meine Frau und mich treibt es an, zur Eindämmung des Klimawandels möglichst viel Kapital zu bewegen. 6 Prozent der 16 Billionen Euro auf EU Girokonten an Eigenkapital reichen, um den globalen Klimawandel zu stoppen.

Die globalen Klimaprobleme sind auch Auslöser für Flucht. Wir haben die große Chance, die Geflüchteten jetzt aufzunehmen, zu integrieren und sie in das Handwerk der Energie-, Verkehrs-, Agrar-, Bau- und Finanzwenden einzuweisen. Dieses Know-how können sie dann in ihre Heimatländer bringen. So können wir die nachhaltige Wirtschaft exportieren und weltweit Wohlstand, Demokratie und Frieden stiften.

Der Erfinder des Energieeinspeisegesetzes, Hermann Scheer, sagte: "Ich bin nicht für Wind und Solar, sondern für Demokratie. Wenn jedes einzelne Haus der Welt sein eigenes Solarpanel auf dem Dach hat, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man von russischen Gaspipelines, saudischen Öltankern oder amerikanischen Flugzeugträgern zu deren Schutz abhängig ist, viel geringer. Dank dezentraler lokaler erneuerbarer Enerigieversorgung ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sich mehr Demokratie und mehr Wohlstand durchsetzen."

Von den Lobbys wird viel Geld ausgegeben, um Energie mittels Öl, Gas und Kohle am Leben zu erhalten, obwohl Solarenergie viel billiger ist. In Dubai, in Houston-Texas, in Chile, in Mexiko wird Solarenergie für zwei Cent pro Kilowattstunde gefördert. Erst wenn der Ölpreis auf vier Dollar pro Barrel fallen würde, könnte man aus diesem Barrel Öl genauso billig Strom produzieren. Da der Preis gerade bei 60 bis 70 Dollar pro Barrel liegt, ist der mit Öl produzierte Strom zwölf Mal so teuer wie der Solarstrom.

Es gibt die Tipping Points. Wenn wir die überschreiten, läuft der Zerfall der Umwelt und damit der Lebensgrundlage der Menschheit unaufhaltsam weiter, egal, was wir dann noch machen. Wir sind dabei, einige heute zu reißen, bei anderen sind wir höchstens noch zwei, drei Jahre entfernt. Es gilt also, sofort und kompromisslos zu handeln.

Grönland ist nur ein Beispiel. Der grönländische Eisschild ist eine dreikilometerdicke Eisschicht, die auf einem Felsuntergrund aufliegt. Die Spitze dieses Eisbergs liegt heute noch in sehr hohen, kalten Luftzonen, weit über der klimatischen Schneegrenze, oberhalb derer mehr Schnee fällt als abtaut und die Eisbildung, oder wenigstens den Erhalt des Eisvolumens, ermöglicht. Wenn jetzt durch die Erderwärmung, die vor allem im Polargebiet schon weit über vier Grad liegt, anhält, schmilzt der Eisschild ab.

Beim jetzigen Masseverlust des Gletschers sinkt auch die Spitze des Eisschilds in niedrigere, wärmere Luftzonen, in denen das Eis dann unaufhaltsam weiter schmilzt, egal ob wir in zehn Jahren die CO²-Emissionen und die Erderwärmung noch bremsen. Wenn der Eisschild auf Grönland erst einmal abgeschmolzen ist, haben wir allein aus diesem Grund sieben Meter höhere Meeresspiegel und Milliarden von Flüchtlingen. Damit wären zwei Drittel der heutigen Behausungen der Menschheit überflutet. Dann hätten wir nicht Millionen von Geflüchteten, sondern Milliarden.

Wie könnten Sie Ihren persönlichen ökologischen Fußabdruck noch grüner machen?

Jochen Wermuth: Ich versuche, Elektroautos in ein Sharing-System einzubauen, aber es fehlt die Skalierung. Wir haben im Moment nur ein Elektrotaxi in Berlin, bräuchten aber hundert. Elektromobilität zu teilen, ist essenziell.

Ich sollte auch noch weniger Fleisch essen. Ich sollte mich dafür einsetzen, dass wir Tegel offenhalten. Nicht als Flughafen, sondern als Infrastruktur für den Hyperloop. So eine Hochgeschwindigkeitskapsel fährt mit einem Achtel der Energie eines Flugzeuges und mit 1000 Stundenkilometern, wodurch wir die Flüge in Europa ersetzen könnten. Ich bewege mich eigentlich nur noch in Europa, kaum mehr interkontinental und versuche eher, Videocalls zu machen.

"Der Wirtschaft Schranken setzen"

Die Fridays-for-Future-Bewegung fordert einen Systemwechsel. Ist diese Forderung realistisch?

Jochen Wermuth: Ziel muss es sein, dass man nicht mehr blind dem Markt vertraut. Das führt zu monopolistischen Strukturen wie Google, Amazon oder Facebook, die dann auch politischen Einfluss haben. Wir müssen als Bürger wach sein und der Wirtschaft Schranken setzen.

Ich habe allerdings noch kein besseres System gesehen als das, in dem es unabhängige Presse, unabhängige Gerichte und eine Exekutive gibt, die von einem Parlament kontrolliert wird. Wir haben in Deutschland schon sehr viele gesunde Komponenten. Wir haben in vielerlei Hinsicht ein gutes System, das jedoch von den Lobbyisten untergraben wird. Banken haben Gesetze mitgeschrieben, die dazu geführt haben, dass man den Bund beim "Cum-Ex Skandal" ausgeraubt hat. Die Regulierung von Emissionen bei Autos diktiert die Automobilindustrie. Das muss aufhören.

Wir brauchen intelligente, durchsetzungsfähige Politiker, die einfordern: Wenn man Dreck verursacht, muss man diesen auch bezahlen. Dieses Verursacherprinzip steht auch in der Verfassung der EU, dem Lissaboner Vertrag.

Der Paradigmenwechsel muss her, was bedeutet, dass man sogenannte "Externalitäten" nicht mehr kostenlos verbrauchen darf, sondern stattdessen zu Vollkosten für die Gesellschaft berechnet werden. So schätzt das Bundesumweltamt, dass eine heute emittierte Tonne CO² über die nächsten hundert Jahre 640 Euro an Gesundheits- und Klimakosten verursacht.

Wir müssen einem Emittenten also für jede Tonne CO² 640 Euro berechnen. Das Geld, das der Staat dadurch einnimmt, sollte direkt pro Kopf zurück an die Bevölkerung verteilt werden. Da die Zinsen heute bei null liegen, kann der Staat das Geld auch Anfang des Jahres an jede Bürgerin verteilen. Da pro Kopf in Deutschland etwa 10 Tonnen CO² ausgestoßen werden, bekommt jede Bürgerin Anfang des Jahres 6.400 Euro überwiesen.

Bei einer vierköpfigen Familie 25.200 Euro. Wenn die Familie dann übers Jahr durchschnittlich viel CO² emittiert, zahlt sie das Geld in Form von Steuern an den Staat. Stellt sie um auf Fahrrad oder mehr Obst und Gemüse und damit auf weniger CO²-Emissionen, muss sie weniger Steuern zahlen und hat am Ende des Jahres Geld übrig.

Wenn jemand überdurchschnittlich gerne fliegt oder Hummer fährt, muss er noch etwas draufzahlen. So schaffen wir es, den Klimawandel sozial gerecht aufzuhalten. Das Schöne an einer solchen CO²-Steuer, deren Einnahmen pro Kopf wieder an die Bevölkerung ausgeteilt werden, ist auch, dass sie sich am Ende selbst abschafft. Sobald wir bei null Emissionen angekommen sind, gibt es auch keine CO²-Steuereinnahmen und keine Ausschüttung an die Bürgerinnen mehr.

Es scheint mir, dass die Chancen von vielen gewählten Vertretern, sich gegen professionelle Lobbys durchzusetzen, sehr beschränkt sind. Dagegen hat "Fridays for Future" die Politik drastisch verändert. Nun sind wir alle dazu aufgerufen, politisch aktiv zu werden und als "Profis" unseren Kindern mit Rat, Tat, Zeit und CO²-Steuer zur Seite zu stehen.

"Wir haben noch zwei, drei Jahre, um die Menschheit vor der Ausrottung zu retten"

Am Tag der offenen Tür habe ich das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrasturkutur besucht. Es kam mir so vor, als hätten sämtliche Vertreter an den Informationsständen das Bewusstsein: "Es muss sich etwas ändern. Jetzt." Dieses Bewusstsein scheint in den Köpfen der Politiker nicht präsent zu sein.

Jochen Wermuth: Ja, es ist traurig. Was ich selbst bei den Grünen beobachte, ist vorauseilender Gehorsam. Man muss vielleicht mit einer der anderen Parteien eine Koalition bilden und schlägt deshalb lächerlich niedrige CO²-Preise vor, wie etwa €40 die Tonne, die mit den Vollkosten nichts zu tun haben. Und dann hat man den Söder in Bayern, der sich heute grünradikaler gibt als jeder Grüne, aber am Ende auch keine vernünftigen CO²-Preise einführt. Die Aussage von "Fridays for Future", es gebe keine Partei, die sie wählen könnten, ist Fakt. Es gibt keine Partei, die einen Co²-Preis fordert, der den Vollkosten entspricht.

Es gibt keine Partei, die das Thema Klimawandel ernst genug nimmt, die die Idee der Tipping Points verstanden hat. Wir haben noch zwei, drei Jahre, um die Menschheit vor der Ausrottung zu retten. Wir müssen den Co²-Preis anheben. Den Preis, den die große Koalition vorgeschlagen hat - am Anfang 10 Euro oder rund 3% der Vollkosten - ist viel zu niedrig.