36C3: Wie sich der Protest in Hong Kong organisiert

Die Protestbewegung in Hong Kong adaptiert Strategien der Autonomen und organisiert sich über soziale Netzwerke. Eine besondere Rolle spielt dabei Telegram.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 35 Kommentare lesen
36C3: Wie sich der Protest in Hong Kong organisiert

(Bild: Hartmut Gieselmann / c't)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Dass die Protestbewegung in Hong Kong der Polizei so lange die Stirn bieten und auf eine breite Unterstützung in der Bevölkerung zählen kann, sei kein Zufall, erklärte Katharin Tai auf ihrem Vortrag anlässlich des 36C3 in Leipzig. Die Analystin des MIT hat die Strategien der Aktivisten eingehend studiert. Sieben Punkte seien für ihren Erfolg maßgebend, die aus Erfahrungen in anderen Ländern aufbauen und diese mit neuen Kommunikationsformen in sozialen Netzen vermischen.

Im Unterschied zu den Gelbwesten in Frankreich hätten es die Menschen in Hong Kong beispielsweise geschafft, sich auf eine kurze Liste von fünf zentralen Forderungen ("Five demands, not one less") zu einigen, die eine Art Minimalkonsens darstellen und sich medial klar transportieren ließen. Der Zusatz "not one less" mache klar, dass sich die Bewegung, die etwa die Freilassung der politisch Gefangenen fordert, nicht aufspalten lasse.

Aktionen würden nach dem Motto "be water" konzipiert. Es gebe vorab keinen festen Schlachtplan, sondern man agiere oft spontan aus der Situation heraus, um auf Straßensperren und Polizeikontrollen zu reagieren. Mithilfe von speziellen Map-Apps ließen sich in Echtzeit die Positionen von Polizeitrupps und Wasserwerfern an tausende von Aktivisten weitergeben und sie so aus Gefahrenzonen navigieren. Gruppen können sich so relativ schnell bilden und anschließend wieder auseinandergehen, um die Zahl von Festnahmen zu verringern.

Um etwa die richtigen Zeitpunkte zum Rückzug zu koordinieren, gebe es keine Leitungsebene. Stattdessen organisiere man sich über Gruppen im Messaging-Dienst Telegram. Dieser bietet unter anderem Abstimmungen in Echtzeit an, sodass Demonstrationszüge per Mehrheitsbeschluss entscheiden könnten, ob sie weitermachen oder sich auflösen. Diese Technik sei beispielsweise bei der Blockade des Flughafens von Hong Kong eingesetzt worden.

Natürlich wüssten die Aktivisten, dass die Gruppen von Telegram von Undercover-Agenten der Polizei unterwandert seien und der Dienst keinen sicheren Schutz vor Überwachung biete, erklärte Tai: "Solche sogenannten Geister gibt es in jeder Gruppe". Doch die Aktivisten hätten ein System entwickelt, um die Gefahr der Entdeckung zu verkleinern. So kursierten einfache Anleitungen, die technisch unversierten Nutzern die richtige Konfiguration von Telegram erklären: wie sie verhindern, dass ihre Telefonnummer an andere Gruppenmitglieder weitergegeben wird, und wie sie enttarnte Zivilpolizisten sperren. Wenn jemand festgenommen wird, geht der Rest der Gruppe automatisch davon aus, dass sein Account kompromittiert wurde und sperrt ihn aus. Nicht aktive Accounts würden nach sieben Tagen gelöscht.

Im Unterschied zu Deutschland, wo seit 1985 ein Vermummungsverbot gilt, ist die Gesichtsverhüllung in Hong Kong bislang nicht verboten. Ein entsprechendes Gesetz soll erst demnächst verabschiedet werden. Aktivisten tragen deshalb Gasmasken, die ihre Identifizierung erschweren und sie vor Tränengas schützen. Zum Outfit gehören zudem schwarze Pullis und Sonnenbrillen, die an die Tradition des Schwarzen Blocks in Deutschland erinnern, und es den Polizeikräften erschweren, einzelne aus einer Gruppe wiederzuerkennen. "Hong Kong ist der größte Schwarze Block der Welt", betonte Tai.

Im Unterschied zu Deutschland, wo Autonome sowie Grüne und kirchliche Gruppen meist getrennt demonstrieren, agiert der Schwarze Block in Hong Kong aber nicht isoliert, sondern erfährt eine breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung. Neben den "Frontkämpfern" mit Gasmaske, gebe es viele friedliche Protestierende, die sich mit Medizinmasken vermummen, als Sanitäter auftreten oder infrastrukturelle Unterstützung in Form von Wasserflaschen, Regenschirmen und Wechselklamotten bereithielten. Privatleute bieten etwa kostenlose Fahrdienste an, damit Aktivisten schneller aus Gefahrenzonen entkommen. Damit diese nicht bei Zivilfahndern einsteigen, kursierten Listen mit Kennzeichen ziviler Polizeifahrzeuge.

An den Einsatz von Tränengas seien die Aktivisten mittlerweile gewöhnt und hätten effektive Methoden gefunden, die Granaten unschädlich zu machen. Entsprechende Videos hätten das Wissen etwa auch nach Chile weitergetragen, wo Demonstranten die Taktiken aus Hong Kong kopieren.

Die Bewegung ist sich der Gefahr bewusst, dass militante und friedliche Aktivisten von den chinesischen Medien gegeneinander ausgespielt werden könnten. Deshalb arbeiten sie aktiv an einer Gegenöffentlichkeit, wo sie etwa auf eigenen Pressekonferenzen zu Aktionen einladen. Es existiert sogar ein professionelles Werbevideo, in dem ein vermummtes "Black Blorchestra" eine eigene Hymne "Glory to Hong Kong" anstimmt.

Die Demokratiebewegung spalte inzwischen auch das Geschäftsleben in Hong Kong. Es gebe wirksame Boykott-Aufrufe gegenüber Geschäften, die die Bewegung nicht unterstützen. Im vergangenen Jahr hätten sich zudem Dutzende neue Gewerkschaften gebildet, die Streiks organisieren. Viele Aktivisten hätten ihre gesamten Ersparnisse in Gasmasken und Widerstands-Utensilien investiert, sodass sie auf die Unterstützung in ihrer Nachbarschaft angewiesen seien. Dies habe die Bevölkerung von Hong Kong nicht nur politisiert, sondern enger zusammenrücken lassen, fasste Tai zusammen.

Obwohl in Hong Kong keine zentrale Organisationsstruktur existiert, hat es die Protestbewegung verstanden, sich auf einheitliche Ziele zu einigen und diese in gemeinsamen Aktionen zu verteidigen. Messaging-Dienste wie Telegram spielen dabei offenbar eine zentrale Rolle und konnten von der chinesischen Regierung bislang nicht unterbunden werden. Deshalb werde die Bewegung auch im nächsten Jahr noch lange für Aufruhr sorgen, prognostizierte Tai. Die nächste Großdemonstration ist für den 1. Januar angekündigt.

Der komplette Vortrag auf dem 36C3 steht auf der Website des CCC als Stream bereit. (hag)