Was war. Was wird. Von Engeln und himmlischen oder nicht so himmlischen Chören

Vom Himmel hoch, ach nee, da kommt nix, "uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun", zitiert Hal Faber mal ausnahmsweise. Musik darf auch sein.

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Was war. Was wird. Von Engeln und himmlischen oder nicht so himmlischen Chören

(Bild: Zwiebackesser / Shutterstock.com)

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Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Das Jahr 2019 müht sich dem Ende entgegen, das Weihnachtsfest ist vorbei und die süßen Glocken schweigen. Nur in Leipzig mühen sich jede Menge Engel ab, den Menschen Freude zu bringen und die Menschenmassen sicher zu geleiten, wenn sie einen Saal wie Ada, Borg oder Clarke verlassen. Ob nun 15.000 oder 17.000 auf dem Congress sind, ob 2.000 oder 3.000 von ihnen ehrenamtlich engeln, sind Fragen, die die Statistikerïnnen unter den Nerds beschäftigen. Gleiches gilt für die angesammelten Arbeitszeiten dieser Engel, denn sie sind freiwillig in den Himmel gegangen, um auf dem Congress zu helfen. Das ist in der freien Wirtschaft etwas anders, da wird jede Stunde gezählt und bezahlt. Unter der Arbeitsministerin Andrea Nahles wurde bekanntlich der Mindestlohn eingeführt, den die SPD jetzt liebend gerne erhöhen möchte. Zum Mindestlohn schenkte das Arbeitsministerium den Arbeitenden die Arbeitszeiterfassung-App "einfach erfasst" als digitale Variante der Stechuhr.

(Bild: Alexey Stiop / Shutterstock,com)

Die Software, die auf der Webseite des Ministeriums angeboten und beworben wurde, wurde zum Schluss von 21.780 Arbeitnehmern genutzt. Zum Schluss? Im September verfügte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) die Einstellung der Software. Das Geld soll "aufgebraucht" sein. Die Hilfestellung für Arbeitnehmer und kleinere Betriebe soll den Kostenrahmen gesprengt haben. Zum Jahresende wurde nicht nur die Zahl der Nutzer bekannt, sondern auch die Kosten. Zur Programmierung der ersten Version gab man 47.000 Euro aus, zwischenzeitliche Updates kosteten 27.000 Euro. "Weitere Ausgaben konnten nicht mehr getätigt werden", so das Ministerium, das über einen Etat von 150 Milliarden verfügt. Hier mag man einwenden, dass es mindestens sieben weitere Apps zur Zeiterfassung gibt, doch das verkennt die symbolische Maßnahmen, mit dem Mindestlohn auch eine App zur Verfügung zu stellen. Mindestens ebenso symbolisch dürfte die Einstellung der App durch einen sozialdemokratischen Minister sein.

*** Dafür hat die deutsche Sozialdemokratie einen neuen Kampfauftrag gefunden. Es geht um das Tempolimit von 130 km/h, das für neuen Zoff in der großen Koalition sorgt. Mit ein paar hübschen Aktionen hat dabei Verkehrsminister Andreas Scheuer seine herunterragende Jahresbilanz noch einmal gesteigert. Seine Argumentation mit "unwesentlich besseren Werten" beruhte auf einer Untersuchung des Umweltbundesamtes von 1996, als man sich unter dem Motto "Freie Fahrt für freie Bürger" zoffte. Und seine Twitter-Crew nutzte für ihre Ablehnung des Vorschlages das Bild einer Schweizer Autobahn. Dort liegt das Tempolimit bei 120 km/h und wer mit 130 erwischt wird, muss 110 Franken zahlen. Mit über 1000 Beiträgen der geschätzten Foristïnnen in der kommentarschwachen Zeit zwischen den Jahren zeigt sich, dass in diesem Thema noch jede Mange Zoffstoff steckt. Ob damit die deutsche Sozialdemokratie wieder zur Sonne, zur Freiheit ziehen kann, ist eine andere Frage.

*** Andere ziehen in der Drecksbelastungsdebatte erst mal gegen eine Satire zu Felde, bei der die Oma eine Umweltsau genannt wird. Darf Satire das? Ja, ist Teil der oft geforderten und selten verstandenen Meinungsfreiheit. Dürfen Kinder so ein Lied singen und dabei sichtlich Spaß haben? Auch eindeutig ja. Das Argument der "Instrumentalisierung" könnte genauso für Kinderchöre gelten, die Kirchenlieder singen oder Arbeiterlieder zu Besten geben, um vom völkischen Liedgut mal zu schweigen. Ach ja: Meine Oma hat in den wilden Zwanzigern ihren Motorrad-Führerschein gemacht und knatterte in Schlesien durchs Riesengebirge. Von ihr lernte ich das hübsche Kinderlied.

*** Das Thema beschäftigt auch den Chaos Computer Congress in Leipzig, der noch bis morgen über "Resource Exhaustion" debattiert. Neben der Ressourcenverschwendung durch aufgeblähte Software werden Vorschläge diskutiert, die Hackerethik um zwei Punkte zu erweitern: "We will not use fossil powered infrastructure for new services or projects. We won't accept work on projects to help extract more fossil fuels." Die Schadstoffbelastung kann durch Digitalisierung reduziert oder gesteigert werden, das ist alles eine Frage der Einstellung. Ein Fortschritt ist jedenfalls, dass wieder einmal über die Ergänzung der Ethik nachgedacht wird, wie es nach dem KGB-Hack geschah. Ob die Ethik dann das Zeug hat, zu einer Richtlinie beim Handeln und Programmieren zu werden, ist eine andere Frage.

*** Das neue Jahr steht vor der Tür und will hineingelassen werden. Allüberall sprießen Artikel, Essays und Kommentare oder eben auch Podcasts wie die Heise-Show über 2020 auf dem Feld der Meinungen und Glaskugeln. Ein großes Geraune über das Hoffen und Bangen ist es und alle fragen sich, was diese Zukunft für uns bereit hält. Von einem "Gefühl diffuser Unsicherheit" ist dann gerne die Rede, als ob es ein Gefühl konkreter Sicherheit geben könnte. Und nach dem Ende aller Utopien erscheint die Welt grau in grau. "Und weil es noch keine neuen großen Ideen, weil es keine großen Ideale gibt, suchen die Menschen im Abfall der Geschichte nach den alten. Das ist der Grund für die Wiederkehr des Nationalismus, das ist der Grund für die neuen politischen Schwarzmarktfantasien. Was hilft dagegen? Es hilft das Denken; Denken ist wichtiger als Twittern."

Denken ist wichtiger als Twittern? Der amtierende US-Präsident und Windmühlen-Experte Donald Trump sieht das anders, wie sein weihnachtliches Twitter-Gewitter zeigt. Im Zuge dieser Aktion, beim Lamentieren über die "Hexenjagd" des Impeachments, twitterte Trump kurz vor Mitternacht am Freitag den Namen des mutmaßlichen Whistleblowers in einem Retweet zu seinen 68 Millionen Followern. Später wurde der Tweet gelöscht. Ob das "unverantwortliche Verhalten" ein Nachspiel haben wird, ist nicht klar, doch die Hexenjagd ist damit eröffnet. In den USA leben Whistleblower gefährlich.

Wenn der letzte Böller geknallt und der Feinstaub leise auf den Boden genieselt ist, erhebt sich das graue Gespenst der Bonpflicht zu einem ersten Rundflug. Diese unter Finanzminister Wolfgang Schäuble beschlossene Einführung hat ja zu komischen Bildern von einem bürokratischen Monster geführt, das den armen Bäckermeister bedroht. Besonders putzig natürlich die Handelskette Rewe, deren selbstständige Markt-Betreiber keine GoBD-konformen einsetzen und die in einer Pressemeldung von 140.000 Kilometern Kassenbons schwadronierte, nur um auch noch dem letzten Kunden die Payback-Wanze aufdrücken zu können. Zwar geht es einfacher mit der Lidl-App und ihrer Kassenbon-Sammelfunktion, doch hat ein Datenschützer ein Auge auf die App geworfen und wollte die Datenschutzbestimmungen prüfen. Bislang scheint das Auge noch nicht wiedergefunden zu sein, doch der Trend ist klar: Bei all dem Jammern um die Bonpflicht wird eine neue Gelegenheit zum Datensammeln ausgebaut, künftig zusätzlich mit personalisierter Werbung auf den Kassenzetteln.

Und dann ist da noch die Musik. Wer Musik liebt, liebt Beethoven, heiß es letztens in einer Beethoven-Sendung um DLF zur Vorbereitung auf 2020. Hm, nun ja, ich bestreite ja nicht, auch manches Mal zu apodiktischen Urteilen zu neigen, aber das geht mir nun doch zu weit. 1,9 Millionen Hörer mag zwar eine beeindruckende Zahl, und Beethoven selbst einem gewissen inhaltlichen Absolutismus nicht abgeneigt gewesen sein. Man muss ja nicht gleich so ein fanatischer Fan Beethovens sein wie Alex, dem nicht nur seine Beethoven-Liebe recht gründlich ausgetrieben wird

Als Anhänger der französischen Revolution dürfte Beethoven aber letztlich doch eine gewisse Freiheit der Meinungen bevorzugt haben, auch musikalisch. So bleibt die Ode an die Freude die angemessene Europahymne, auch 2020, wenn Beethovens 250. Geburtstag gefeiert wird. Warum aber nur Beethoven feiern, den eben doch nicht jeder liebt, der Musik liebt. Was ist mit Rio Reiser, der seinen 70. Geburtstag feiern könnte, so er denn noch lebte? Was mit Peter Gabriel und Bobby McFerrin, die glücklicherweise noch leben, aber ebenfalls 70 werden? Dave Brubeck würde im kommenden Jahr gar 100, ebenso wie Ravi Shankar, Kurt Weill könnte seinen 120. Geburtstag feiern (und wir gedenken seines 70. Todestags). Darf es noch etwas älter sein? Frederic Chopin hätte 210. Geburtstag. Weitere Todestage gibt es auch: Max Bruch ist vor 100 Jahren gestorben, Jimi Hendrix vor 50 Jahren. Ach ja, es gibt einiges an musikalischem Gedenken, dass wir 2020 genießen können (und auch manches, was eher Erschröckliches wach ruft).

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Also dann doch lieber "An die Freude"? Nun, warum nicht, es ist kein schlechter, eher tröstender Ausklang für 2019 und ein hoffnungsvoller Anfang für 2020. Möglicherweise ist aber Weills Seeräuber-Jenny der passende Song zum Jahr, mehr noch als der Aufruf zur Selbsthilfe. (jk)