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Was war. Was wird. Vom Fluch, in interessanten Zeiten zu leben.

Das Jahr hat erst begonnen, da wird mit der Abrissbirne auf den Weltfrieden und mit autonomen Waffen auf Passagierflugzeuge losgegangen. Hal Faber denkt an HAL.

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Was war. Was wird. Vom Fluch, in interessanten Zeiten zu leben.

"Gehirne der Serie 9000 sind die besten Computer, die jemals gebaut worden sind. Kein Computer der Serie 9000 hat jemals einen Fehler gemacht oder unklare Informationen gegeben. Wir alle sind hundertprozentig zuverlässig und narrensicher – wir irren uns nie."

(Bild: Metro-Goldwyn-Mayer)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Letztes Jahr, damals in 2019, lang ist's her, hatte die Biennale in Venedig ein komisches Motto. Die Leistungsschau moderner Kunst startete mit dem chinesischen Fluch "Mögest du in interessanten Zeiten leben". Nun schreiben wir 2020 und leben in diesen verflucht interessanten Zeiten, nachdem die USA auf
Befehl von US-Präsident Donald Trump mit einem Mord an einem Iraner den brüchigen Weltfrieden mit der Abrissbirne bearbeiteten. Dann aber hagelte es ein paar Raketen. Scheinbar waren die Tage der Wut vorbei, doch dann kam die Nachricht, dass eine Rakete wenige Sekunden brauchte, um den Flug PS 752 gewaltsam zu beenden. Nun bedauert der Iran den "unabsichtlichen" Abschuss, der zum Tod von 176 Menschen führte. Es gibt unterschiedliche Zahlen über die Nationalitäten der Toten, doch muss man darauf hinweisen, dass aus der Sicht der Islamischen Republik Iran die Mehrheit der Toten Iraner waren, weil ein Iraner seine Staatsbürgerschaft niemals verlieren kann. Auch deshalb musste Staatspräsident Hassan Rohani von einem "schrecklichen Fehler" sprechen, dem Iraner zum Opfer fielen.

Wird es ethisch vertretbar sein, einen Konversations-Computer abzuschalten, der am Bett eines einsamen alten Menschen sitzt?

(Bild: MIT Press)

*** Immerhin dürften die weiteren Untersuchungen des Unglücks nicht länger behindert werden, ganz anders als beim Abschuss von Flug IR 655 durch die USA im Jahre 1988 (PDF-Datei). Da dauerte es acht Jahre, bis unter Präsident Clinton eine Entschuldigung aus den USA zu hören war und den Angehörigen Schmerzensgeld gezahlt wurde. Was zum Erscheinen dieser kleinen Wochenschau noch ungeklärt ist, ist der "schreckliche Fehler": Wenn die Vermutung stimmt und eine SA-15 Gauntlet eingesetzt wurde, dann haben wir es mit dem Fall eines autonomen Waffensystems zu tun, das seine Entscheidung im Sekundenbereich selbst getroffen hat. Wie heißt es in der Wikipedia: "Anfliegende Ziele können automatisch nach Gefährdungspotential klassifiziert und ohne Eingriff eines Bedieners bekämpft werden." Irgendein stationiertes SA-15-System muss dann den Abflug als Anflug gewertet haben. Die offizielle Erklärung von einem "Defekt im Kommunikationssystem" klingt nicht besonders beruhigend. SA-15-Systeme werden auch in Europa eingesetzt, in Griechenland und der Türkei.

*** Damit sind wir bei der Frage, wie autonom Computer töten können dürfen und wie solche Computer wiederum abgeschaltet werden können. Passend zu dieser Frage ist ein 25 Jahre alter Aufsatz wieder veröffentlicht worden, in dem sich der Philosoph Daniel Dennett mit der Frage beschäftigte, ob HAL 9000 tötete. 25 Jahre später fragt David Stork als Herausgeber des damaligen Buches über die rechnerischen Leistungen von HAL: "Wird es ethisch vertretbar sein, einen Konversations-Computer abzuschalten, der am Bett eines einsamen alten Menschen sitzt?" Eine Frage, die sich mit dem Home Care Robot von Medisana stellt, der gemeinsam mit dem Menschen durch die Wohnung rollt und für Unterhaltung sorgt. Vielleicht hilft da Dennett, denn diese Defintion von Bewusstsein hat was: "Der bewusste menschliche Geist ist so etwas wie eine sequentielle virtuelle Maschine, die – ineffizient – auf der parallelen Hardware implementiert ist, die uns die Evolution beschert hat."

*** Mit einem außerordentlich eleganten Webauftritt haben sich die Herzogin und der Herzog von Sussex vom britischen Publikum verabschiedet, das sich von seiner intoleranten, bornierten Seite gezeigt hat. Gefeiert wurde nur kurz, nun ist es Zeit, die Insel zu verlassen, um eine lebenswerte, auch "geographische Balance" in deutlicher Entfernung zu dieser Bitterkeit zu leben. Mit Popo, dem Todesclown startete dieser Tage eine bemerkenswerte Kolumne der Autorin A.I. Kennedy zum Leben im Brexit, in der sie beschreibt, was es bedeutet, in einer Fadheit zu leben, in der #RuinedChristmas der wichtigste Hashtag des Landes war. "Werden wir in Lichtgeschwindigkeit draufgehen oder nur in Schallgeschwindigkeit? Oder mit der Geschwindigkeit verdünnter Soße? Wir wissen es nicht. Und während die meisten darauf warten, dass die zahlreichen Desaster zueinanderfinden, warten die anderen darauf, dass sie verschwinden: Schwarze, Muslime, EU-Bürger, Juden, Behinderte, Linke, Homosexuelle, Jugendliche, Leser, Comedians, Anwälte, Vegetarier, Autoren. Die übliche Liste."

*** Wo bleibt das Positive? Es kommt, wie so häufig, aus den Archiven vor Vorvorgestern. Diesmal kommt es von Albert Camus, von dem ein paar nachgelassene Papiere im Archiv des Generals de Gaulle gefunden wurden. Camus schreibt zu einer Zeit, in der er gegen die Kollaboration mit den deutschen Besatzern kämpfte, über die Eliten: "Die Eliten unseres Landes haben das begriffen und haben den Befreiungskrieg aufgenommen, um weiterhin sprechen zu können. Doch um sprechen zu können, muss man mit der Möglichkeit des eigenen Verschwindens rechnen. Aus diesem Verschwinden kann sich ergeben, wie 1919, wie vielleicht morgen wieder, dass die Elite die Sprache verliert. Wie 1919, wie morgen vielleicht, werden dann die Anderen das Sprechen übernehmen, jene, die sich im kritischen Moment als Zeugen ausgaben und im Grunde nur zur Schar der Vorsichtigen gehörten." Auch wir brauchen die, die sich nicht in der Schar der Vorsichtigen verstecken und zu sprechen wagen. Dazu gehört es, sich gegen die biometrische Gesichtserkennung auszusprechen und auch, das übergriffige BND-Gesetz zu erhandeln, gegen die Häme der BND-Zuträger, die von Prozesshanseln schwafeln und sich ihre dicken Bäuche halten.

Langeweile, obwohl die Zeiten doch so interessant sind? Ich möchte da ein kleines Spielchen vorschlagen, mit dem man sich wunderbar die Zeit bis zum nächsten Anschlag vertreiben kann. Als aufmerksamer, mündiger und surfender Bürger landet man häufig auf Informations- oder Werbeseiten unserer Bundesregierung. Schließlich ist da diese Digitalisierung, der sich alle stellen müssen. Auch wenn die neue Arbeiterpartei FDP/ML meint, dass dieser unserer Regierung Wille und Kraft für ein Digitalministerium fehlen, so gibt es doch viele, viele Ministerien und noch viel mehr Projekte, die allesamt kompetent am digitalen Rad drehen. Das Spielchen geht so: Wenn man sich auf einer Seite der Bundesregierung, der Ministerien oder der Projekte befindet, nehme man den Domain-Namen und ersetze ihn mit einer .org-Adresse, so wie in wikileaks.org oder wikipedia.org.

Ein Beispiel: Angenommen, man möchte weg aus diesen interessanten Zeiten, am besten gleich ins nächste Jahr, wenn bei LÜKEX 21 ein groß angelegter Cyberangriff auf die Bundesregierung bravourös abgewehrt wird. Unter luekex.de gelangt man hier zu den öffentlichen Informationen über das Planspiel, unter luekex.org aber auch. Die Vermutung liegt nahe, dass es so viele weitere org-Adressen gibt, dass man sogar ein Trinkspiel daraus machen könnte. Mit Überraschungen natürlich. Man nehme wirksamregieren.org und landet bei der Bundesregierung, man nehme Bundesregierung.org und landet bei F00.net im Nirwana.

"Wie 1919, wie morgen vielleicht, werden dann die Anderen das Sprechen übernehmen, jene, die sich im kritischen Moment als Zeugen ausgaben und im Grunde nur zur Schar der Vorsichtigen gehörten." (Albert Camus)

Die Erklärung kommt mit der Meldung, dass wir unter Geiern leben, seitdem bekannt wurde, dass eine Investmentfirma sich in die Verwaltung von .org einkaufen möchte. So kreisen die Geier über dem Internet und wir mit ihnen. Deutschland besitzt als Verschlüsselungsstandort Nr.1 auch die Domain krypto-charta.org und offenbar jede Menge weitere .org-Domains, aber Genaueres weiß man nicht, das würde ja den Cyberangreifern, den Cybergeiern nützen, wie es in der Antwort der Bundesregierung (PDF-Datei) auf eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Anke Domscheit-Berg zu den .org-Verhältnissen heißt:

"Die Bundesregierung beobachtet das laufende Verkaufsvorhaben der Top Level Domain „.org“ durch die Internet Society (ISOC) an die US-Investmentgesellschaft Ethos Capital und wird die weiteren Entwicklungen – auch in Bezug auf die durch die Bundesregierung genutzten .org-Domains – genau prüfen. Als Anlage beigefügt ist eine Aufstellung der durch die Bundesregierung einschließlich der Geschäftsbereichsbehörden genutzten .org-Domains. Dieses Dokument wurde als VS – NUR FÜR DEN DIENST-GEBRAUCH (VS-NfD)eingestuft. Begründung: Bei der gefragten Auflistung von .org-Domains handelt es sich um eine bislang öffentlich nicht verfügbare Information. Nach Einschätzung der Bundesregierung bestehen bezüglich einer öffentlichen Herausgabe nicht unerhebliche Sicherheitsbedenken, da nachteilige Auswirkungen auf Belange der Sicherheit der Informationstechnik der Bundesverwaltung zu erwarten sind. Insbesondere könnten aggregierte Informationen über von der Bundesregierung genutzte Domains geeignet sein, um einen erfolgreichen Angriff auf die Informationstechnik des Bundes – beispielsweise „DNS-Hi-jacking“ und „DDoS“-Angriffe – zu ermöglichen oder zumindest entscheidend zu erleichtern." (tiw)