Studie: Soziale Kipp-Punkte könnten den Klimawandel eindämmen

2018 hatten Wissenschaftler gewarnt, dass Kippelemente das Klima rasch aus dem Ruder laufen ließen. Nun gibt es Hoffnung auf Gegenbewegungen.

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Studie: Soziale Kipp-Punkte könnten den Klimawandel eindämmen

(Bild: Liv Oeian/Shutterstock.com)

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Forscher haben sechs verschiedene soziale Kipp-Punkte ausgemacht, die einem weiteren raschen weltweiten Klimawandel entgegenwirken könnten. Ein zentrales Mittel sehen sie darin, staatliche Subventionen für die Energieerzeugung aus fossilen Quellen umzuwidmen hin zu den Erneuerbaren. Photovoltaik oder Windstrom könnten sich so als dauerhaft günstigere Variante erweisen. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Team aus Wissenschaftler um Ilona Otto vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

Die Experten haben sich laut der am Montag im Fachmagazin PNAS der Nationalen Academy of Sciences der USA veröffentlichten Analyse auf die Suche nach Eingriffsmöglichkeiten mit dem Potenzial gemacht, etwa neue Technologien, veränderte Verhaltensweisen oder soziale Normen rund um den Klimaschutz schneller zu verbreiten. Fördergelder erscheinen ihnen dabei als wichtiges Werkzeug. Ganz in diesem Sinne kündigte die Europäische Investitionsbank (EIB) bereits vor Kurzem an, ihre Investitionen in die meisten fossilen Brennstoffe wie Kohle und Öl von Ende 2021 an einzustellen. Die EU-Kommission will die Weichen mit dem "Green Deal" weiter in diese Richtung stellen.

Für ihre Arbeit hat die Gruppe weltweit Wissenschaftler nach den wichtigsten sozialen Kippelementen befragt. Aus den vorgeschlagenen 207 Elementen erarbeiteten die Autoren die aus ihrer Sicht aussichtreichsten Kandidaten. Voraussetzung dabei war, dass die gewählten Punkte in den nächsten 15 Jahren greifen können, damit die Klimaziele für 2050 erreicht werden können. Um bis dahin eine Null-Emissions-Welt zu erreichen, müsste der globale CO2-Ausstoß schnell um mindestens sieben Prozent pro Jahr sinken. Trotz jahrelanger Verhandlungen auf UN-Ebene steigt er aber noch immer.

Kippelementen ist gemein, dass sie schon durch häufig geringe äußere Einflüsse scheinbar plötzlich und unumkehrbar in einen anderen Zustand münden können. Sie werden oft mit umfallenden Dominosteinen und sich daraus ergebenden Kettenreaktionen verglichen. Im Sommer 2018 hatten Forscher aus dem PIK und anderen Instituten gewarnt, dass das Klima etwa durch solche physikalischen, sich gegenseitig verstärkende Rückkopplungen aus dem Ruder laufen und diese zu einer Heißzeit führen könnten. Sie verwiesen unter anderem auf auftauenden Permafrostböden, sich erwärmende Meeresböden oder das Aus für große Ökosysteme wie den Amazonas-Regenwald.

Die Verfasser der neuen Studie deklinieren als gesellschaftliche Spiralbewegungen in die andere Richtung auch den Aufbau kohlenstoffneutraler Städte, den Ausstieg aus finanziellen Vermögenswerten, die mit fossilen Brennstoffen verbunden sind, und Anreize für dezentralisierte Energie durch. Daneben haben für sie eine verstärkte Aufklärung über den Klimawandel, über die Emissionen fossiler Brennstoffe und über die moralischen Implikationen der Nutzung etwa von Öl oder Gas großes Potenzial, um für eine nachhaltige globale Dekarbonisierung zu sorgen.

Die Kollegen hätten "zentrale Elemente benannt und erkannt, die absolut wichtig sind, um die Klimaziele zu erreichen", lobte Claudia Kemfert, Energie- und Umweltexpertin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), den "innovativen" Ansatz. Das Team bestätige, "dass bisherige Ansätze nicht nur naturwissenschaftliche, sondern vor allem soziale und ökonomische Kipppunkte gleichwertig einbeziehen müssen, um auf allen Ebenen erfolgreichen Klimaschutz durchsetzen zu können".

Der Kasseler Umweltpsychologe Andreas Ernst bezeichnete den vorgestellten Fokus auf die positive soziale Dynamik beim Klimawandel ebenfalls als "gute, neue Entwicklung". Prinzipiell seien "gesellschaftliche Tipping Points" bereits bekannt mit "Revolutionen im Großen oder der Wechsel politischer Mehrheiten im Kleinen". Die Streikbewegung "Fridays for Future" habe auch demonstriert, "wie die Synchronisierung Vieler zu einer politischen Kraft werden kann, die zu einer Wende in der Klimapolitik beiträgt". Auf diese gesellschaftlichen Wendepunkte komme es an. Die besprochenen Eingriffe blendeten aber "politische und wirtschaftliche Machtfragen als wesentliche Beharrungsfaktoren" noch völlig aus.

Angesichts des ernsthaften und drängenden Themas müsse die Diskussion nun unbedingt "nach vorne" geführt werden, forderte der Frankfurter Professor für nachhaltige Energiefinanzierung, Ulf Moslener. Die Naturwissenschaft sage: "Wir müssen sofort los, und sie gibt uns die grobe Richtung". Für den genauen Weg müssten Mehrheiten gefunden werden, wozu die Untersuchung beitragen könne.

Maria Daskalakis, Leiterin der Gruppe Umweltpolitik am Institut für Volkswirtschaftslehre der Uni Kassel, gab zu bedenken, dass der niedrige Rücklauf mit 113 Beteiligten von über 1000 Befragten sowie der hohe Anteil von 56 Prozent der Antworten aus Europa sowie weitere Parameter einen sehr vorsichtigen Umgang mit den Ergebnissen beziehungsweise "deren Generalisierung und Ableitung von Maßnahmen" empfehlenswert machten. Der gute Gedanke, eine Kehrwende einzuleiten, bedürfe "eines inter- und transdisziplinären Ansatzes, der der Komplexität der Themenstellung gerecht wird". Katharina Hölscher vom niederländischen Forschungsinstitut "for Transitions" spricht dagegen von einer "robusten Methodik" und einer "wichtigen Botschaft". (olb)