Abschied vom Abenteuer
Warum Amazon daran schuld ist, dass alles immer unordentlicher und langweiliger wird.
- Peter Glaser
Früher wusste, wer einen Versandhauskatalog in die Hand nahm, wie die Welt geordnet ist. Das rasch expandierende Universum der Waren hatte sich einer Struktur gefügt, die als eine Art monumentales Morsezeichen durch den Katalog führte – stets beginnend mit Damenoberbekleidung, dann Kinder, Herren, Zinnteller, Autos, Gartengeräte, Waschmaschinen. Wobei sich aus diesem technologischen Urschlamm am Katalogende in den kommenden Jahrzehnten immer mehr moderne Technik erheben sollte ("Videografieren – das tolle Fernseh-Hobby!", Quelle-Katalog 1973).
Jeff Bezos weiß heute, wie man mit Unordnung Geld verdient. In den Amazon-Logistikzentren finden sich angelieferte Waren in Plastikkisten wieder, und zwar so, wie sie grad' reinkommen. Ein muskulöses Warenwirtschaftssystem errechnet, welcher Mitarbeiter gerade den kürzesten Weg zu den nächsten freien Regalplätzen hat und teilt ihm über seinen Handscanner die Route mit. Am Ziel werden Produktkennung und Regalposition erfasst. Das System weiß nun, wo die Ware zu finden ist. Die Lagerung folgt dabei einer ganz einfachen Ordnung, nämlich keiner.
Nach Auskunft von Amazon lassen sich damit nun etwa doppelt so viele Produkte auf bestehenden Flächen unterbringen als noch vor fünf Jahren. Die digitale Neuordnung beschränkt sich im übrigen nicht mehr nur auf die Präsenz der Waren in den Regalfluchten. Anfang 2014 wurde Amazon ein Patent auf "vorausschauenden Versand" erteilt. Dabei sollen Waren, für die Kunden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit interessieren, schon mal in ein Logistikzentrum in ihrer Nähe geschickt werden, ehe sie dann eventuell tatsächlich bestellt werden.
Das Interessante an der chaotischen Lagerhaltung ist, dass eine vom Menschen kontrollierbare Ordnung aufgegeben wird zugunsten einer größeren Dynamik, wobei sowohl das Risiko als auch die mögliche Erfolgsquoten zunehmen. Den Überblick haben nur noch die Rechner. Sollten sie ausfallen, würde das Wiederfinden der Waren zur Detektivarbeit werden. Dieser außerordentlich erfolgreiche Versuch von Ordnung durch Nichtordnung läßt zugleich wieder modern erscheinen, wie die alten Ägypter sich das Funktionieren der Welt vorstellten.
Demnach fuhren die Götter in einer Sonnenbarke über den Himmel und nachts durch die Unterwelt, und jeden Tag griff die Schlange des Chaos das Boot an und wurde getötet, und ihr Blut färbte das Morgenrot. Chaos und Ordnung sind existentiell aufeinander angewiesen, das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Und die alten Ägypter haben uns nicht nur organische Vorstellungen von Ordnung hinterlassen, sondern auch deren diametrales Gegenteil – Ordnung als steinernes System, mit den Pyramiden als Inbegriff der Immobilie, des Unbeweglichen und zugleich geometrisch Geordneten.
Auch die scheinbar unerschütterlich festliegende Ordnung der Versandhauskataloge löst sich mit ihrem Verschwinden nun auf. Die zur Wuchtigkeit herangereiftem Verzeichnisse – allein der Neckermann-Katalog umfaßte zu seinen besten Zeiten mehr als 1000 Seiten – hatten tiefergehendere Aufgaben als nur einem bloßen Einkauf vorauszugehen. Die Damenunterwäscheabteilung etwa war eine für adoleszente Jungs unersetzliche Ressource, deutlich kühner und erwachsener als Dr. Sommer.
In den 47 Kategorien von Amazon, die von Alexa-Skills bis Zeitschriften langweilig nach dem Alphabet sortiert sind, findet sich von diesen Abenteuerlichkeiten der Konsumwelt nur noch ein blasser Schatten. Eigentlich müßte sich das Empfinden einstellen, im Katalog der Kataloge zu stöbern, stattdessen stellt sich ein Völlegefühl von dem Überangebot und dasselbe Phänomen wie bei Google ein, wo auch keiner mehr auf die zweite Bildschirmseite blättert. Convenience ist alles, tatsächlich hat die Faulheit gesiegt und wie wir wissen, führt sie dazu, dass alles immer Unordentlicher wird.
(bsc)