Klassiker neu gelesen: Risikogesellschaft

In Ulrich Becks Beobachtungen mag man zwar keinen Trost finden, aber immerhin Erklärungen – meist wohltuend leidenschaftlich und bissig formuliert.

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Glyphosat, Stickoxide, Crispr, Klimawandel, Plattform-Ökonomie, Künstliche Intelligenz – all dies taucht in Ulrich Becks "Risikogesellschaft" nicht auf. Kein Wunder, das Buch stammt von 1986. Damals ging es um Tschernobyl, Dioxin, Smog, Waldsterben und Retortenbabys. Trotzdem passen Becks Beobachtungen auch auf heutige Debatten wie die Faust aufs Auge. Wen die Verzweiflung packt angesichts der Widersprüchlichkeit und Verworrenheit der Welt, der findet beim Soziologen Beck (1944 – 2015) zwar keinen Trost, aber immerhin Erklärungen – manchmal in einem etwas verquasten Soziologenjargon, meist aber wohltuend leidenschaftlich und bissig. Viele Gedanken sind nicht unbedingt neu, aber sie in solcher Prägnanz formuliert zu lesen ist ein intellektueller Genuss. Wer jeden bemerkenswerten Satz im Buch markieren möchte, braucht einen ergiebigen Textmarker.

Einen besonderen Schwerpunkt legt Beck auf die ambivalente Rolle der Wissenschaft. Sie stilisiere ihre Ergebnisse, die immer nur "Irrtümer auf Abruf" sein könnten, gleichzeitig zu "Erkenntnissen mit Ewigkeitsgeltung, deren praktische Nichtbeachtung der Gipfel an Ignoranz wäre. Nach außen wird dogmatisiert, was im Inneren dem bohrenden Fragen und Zweifeln preisgegeben wird."

Dabei enthalte die Unterscheidung zwischen "(rationaler) wissenschaftlicher Risikofeststellung und (irrationaler) Risikowahrnehmung" eine "Geschichtsfälschung", schreibt Beck. "Das heute anerkannte Wissen um die Risiken und Gefährdungen der wissenschaftlich-technischen Zivilisation hat sich überhaupt erst gegen die massiven Leugnungen einer borniert in Fortschrittsgläubigkeit befangenen, wissenschaftlichen Rationalität‘ durchgesetzt." Den Ursprung der Wissenschafts- und Technikkritik sieht Beck nicht in der "Irrationalität" der Kritiker, sondern im "Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität angesichts wachsender Risiken und Zivilisationsgefährdungen."

Die Ursache sieht er darin, dass die Wissenschaft in ihrer "überspezialisierten Arbeitsteiligkeit, in ihrem Methoden- und Theorieverständnis, in ihrer fremdbestimmten Praxisabstinenz –, gar nicht in der Lage ist, auf die Zivilisationsrisiken angemessen zu reagieren, da sie an deren Entstehen und Wachstum hervorragend beteiligt" sei. Je höher der Grad der Spezialisierung, desto größer seien "Reichweite, Anzahl und Unkalkulierbarkeit der Nebenfolgen wissenschaftlich-technischen Handelns" – und "die Wahrscheinlichkeit, daß punktuelle Lösungen erdacht und umgesetzt werden, deren beabsichtigte Hauptwirkungen dauernd durch die unbeabsichtigten Nebenwirkungen zugeschüttet werden." Die überspezialisierte Wissenschaftspraxis werde so zu einem "Verschiebebahnhof" für Probleme und ihre "kostenaufwendigen Symptombehandlungen".

Andererseits schaffe die "industrielle Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse nicht nur Probleme, die Wissenschaft stellt auch die Mittel – die Kategorien und das Erkenntnisrüstzeug – zur Verfügung, um die Probleme überhaupt als Probleme erkennen und darstellen zu können (bzw. erscheinen zu lassen) oder eben nicht." Die Umweltbewegung, die Industrie- und Zivilisationskritik sei deshalb auch meist beides: "wissenschaftskritisch und wissenschaftsgläubig". Wissenschaft werde "immer notwendiger, zugleich aber auch immer weniger hinreichend für die gesellschaftlich verbindliche Definition von Wahrheit", so Beck.

Für den Umgang mit Risiken hat das laut Beck zwei widersprüchliche, aber gleichermaßen verheerende Folgen: Zum einen behindere "institutionalisierte Selbstzweifel" der Wissenschaft die Anerkennung von Risiken: "Je höher die Gütekriterien geschraubt werden, desto geringer ist der Kreis der anerkannten und desto größer der Stau der nichtanerkannten Risiken. Das Bestehen auf der 'Reinheit' der wissenschaftlichen Analyse führt zur Verschmutzung und Verseuchung von Luft." Und solange Risiken nicht wissenschaftlich anerkannt seien, "existierten" sie auch nicht – "jedenfalls nicht rechtlich, medizinisch, technologisch und sozial, werden also auch nicht behindert, behandelt, entschädigt."

Zum anderen immunisiere "das Ja-Aber, das Einerseits-Andererseits" der Wissenschaft "gesellschaftlich geltende Ideologien und Interessenstandpunkte gegen wissenschaftliche Aufklärungsansprüche". "Wenn 'anything goes', woher wird dann das Recht genommen, an bestimmte Risiken zu 'glauben', an andere nicht? Gerade die Krise der wissenschaftlichen Autorität kann also eine allgemeine Vernebelung von Risiken begünstigen. Selbst Erhärtetes wird sich gegen systematischen Dauerzweifel behaupten müssen."

Der "Verlust der Wahrheit" hat für Beck aber auch seine "sympathischen Seiten": "Wahrheit war eine überirdische Anstrengung, eine nahe Verwandte des Dogmas." Auch ohne Wahrheit lasse sich Wissenschaft betreiben, "vielleicht sogar besser, ehrlicher, vielseitiger, frecher, mutiger".

Auch andere Entwicklungen hat Beck bemerkenswert weitsichtig vorhergesagt, etwa die zunehmende Hilflosigkeit der Politik, die auf technische Entwicklungen nur noch reagieren, sie aber nicht mehr lenken kann. Die wirklich wichtigen Dinge werden von Firmen unter dem Banner des Fortschritts angestoßen. "Betriebliches und wissenschaftlich-technisches Handeln gewinnt damit eine neue politische und moralische Dimension, die bislang für ökonomisch-technisches Handeln wesensfremd schien." Das klingt wie ein aktueller Kommentar zur Siemens-Debatte.

Die neuen Machtzentren fasst Beck als "Subpolitik" zusammen, "in der die Reichweite der ausgelösten Gesellschaftsveränderungen sich umgekehrt proportional zu ihrer Legitimation verhält." Die politischen Institutionen würden dadurch "zu Sachverwaltern einer Entwicklung, die sie weder geplant haben noch gestalten können, aber doch irgendwie verantworten müssen."

Als Ausweg empfiehlt Beck, alle Entscheidungen daraufhin abzuklopfen, ob sie "Irreversibilitäten" schaffen. "Die Technologieforschung und -politik muß von der bisher bestbestätigten und sympathischsten 'Theorie' ausgehen: der Fehler- und Irrtumsbehaftetheit menschlichen Denkens und Handelns. Wo technologische Entwicklungen in Widerspruch zu dieser einen – vielleicht sogar letzten, im Grunde genommen beruhigenden – Gewißheit treten, bürden sie der Menschheit das untragbare Joch der praktischen Irrtumslosigkeit auf."

Ulrich Beck: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition Suhrkamp, 396 Seiten, 14 Euro (E-Book: 13,99 Euro)

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(jle)