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Was war. Was wird. Eine Verschwörung kommt selten allein.

Zonen der Unbestimmtheit? Der große Verdacht: ein automatischer Reflex, nicht nur von Verschwörungstheoretikern, die fröhliche Urständ feiern, zetert Hal Faber

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Was war. Was wird. Eine Verschwörung kommt selten allein.

Derzeit könnte man meinen, Pinocchio habe unzählige Nachfolger herangezogen. Derzeit? Ach, reflexhafte Verschwörungstheorien haben schon immer lange Nasen produziert.

(Bild: Lightspring / Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Illustration von Frank Rudolph Paul

*** Was unterscheidet eine Ausgangssperre von der Schaffung einer Zone der Unbestimmtheit? In einer solchen Zone leben wir jetzt, wenn man dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben glaubt, der eine sich ausweitende Zone der Rechtlosigkeit inmitten eines formal gültigen Rechtssystems sieht. Er sieht ein wölfisches System, in dem es nur noch um das nackte Überleben geht, das je nach Land eine teure Sache ist: In den USA soll ein nicht versicherter Mensch nach seiner Genesung 34.927,43 Dollar für die Behandlung zahlen. Für seine Sätze erntet Agamben heftige Kritik von seinem Genossen Slavoj Žižek, der die reflexhafte Reaktion von Linken kritisiert, hinter jedem Ausnahmezustand eine Reaktion "der Machthaber" zu sehen, denen die soziale Kontrolle entgleitet. Leider haben beide Großdenker die durchaus vernünftige Fernsehansprache unserer Bundeskanzlerin nicht gesehen, die einige Worte zur Demokratie in Zeiten der Corona-Krise parat hatte, freilich ohne das Wort von der Ausgangssperre in den Mund zu nehmen. Dafür wurde wiederum Merkel in Deutschland kritisiert, im Ausland dort gelobt, wo man nur das Gelaber von Trump zum "Chinese Virus" kennt und seine ärztlichen Ratschläge für seriös hält.

*** So leben wir in Zeiten, in denen wir – auch das ist Merkelisch – "soziale Distanz" von einer Tapirlänge halten sollen, womit eigentlich eine räumliche Distanz gemeint ist. Denn sozial sollen wir ja mehr denn je zusammenhalten; und das vor wenigen Wochen noch oft allzu häufig gehörte Gejammer über die schlimmen Jugendlichen, die sich nur noch virtuell treffen, ist gänzlich verstummt. Außerdem sollen wir und nicht einfach ein Auto aufbrechen, wenn ein paar Rollen Toilettenpapier auf dem Rücksitz liegen. Wir leben in Zeiten, in denen wir uns sorgfältig informieren sollen, in denen aber die Infodemie fröhliche Urständ feiert. Man könnte meinen, dass die Menschheit nichts aus der furchtbaren Toilettenpapierkrise von 1973 gelernt hat.

*** Die fröhliche Wiederauferstehung der Gerüchteküche begleitet diese kleine Wochenschau, in dem sie sich heute dem großen F widmet, dem F wie Fake News und den Ferschwörungstheorien. Da gibt es bekannte V-Theoretiker wie Alex Jones, die große Verschwörungen kennen und gleichzeitig die von ihnen vertriebene Zahnpasta preisen, die den Coronavirus aus dem Rachen spült. Die Fake News starten mit Orson Welles, der Bilder seiner Lebensgefährtin Oja Kodar mit denen von Raumschiffen verschnitt, die 1956 im Science-Fiction-Film "Fliegende Untertassen greifen an" ("Earth vs. the Flying Saucers") das erste Mal auf der Leinwand auftauchten. Bekanntlich inszenierte Orson Welles 1938 das Hörspiel War of the Worlds im US-amerikanischen Radio, was dazu führte, dass Marsianer das Hörspiel mithörten und sich schleunigst auf den Weg machten, um die Erde zu überfallen. In Spaced Invaders kehren die Marsianer am Ende heim, aber das ist ja auch nur ein Film.

*** Womit wir doch wieder bei der Ausgangssperre sind, denn die gab es vor 125 Jahren nicht, als ein historisches Ereignis stattfand: Am 22. März 1895 wurde die erste Publikums-Projektion eines Films gezeigt, "Das Tor der Lumière-Fabrik in Lyon". Bis zum ersten Science-Fiction-Film Reise zum Mond dauerte es noch etwas.

*** Auffallend viele Verschwörungstheorien haben damit zu tun, dass die Außerirdischen längst unter uns leben, seien sie nun Marsianer oder die dreiäugigen Lebewesen vom Sirius. Diese sollen nach einer V-Theorie zunächst fischartig in unserem Gewässern gelebt haben, ehe sie sich mit dem Stamm Benjamin der Israeliten paarten und so das Geschlecht der Merowinger bildeten, das bis heute die Welt regiert. Das behauptete jedenfalls Gérard de Sède in seinen Büchern über Rennes-le-Chateau und die Maria-Magdalena-Kirche. Heute sind diese geheimen Herrscher, die die Welt regieren, als Bilderberger bekannt. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Desinformation über eine zweite Erde, die Gegenerde, die genau hinter der Sonne steht. In einer anderen Variante ist unsere olle Erde hohl und wird von vier Meter hohen Siriussen bewohnt, die vegetarisch leben. Sicher kommt bald eine Variante der Verschwörungstheorie, die COVID-19 als Bestandteil der Herrschaft dieser Wesen aufgreift.

*** Es geht freilich auch ganz ohne Aliens. Man denke nur an die Testreihen und Experimente im Gefängnis von Holmesburg, über die etliche Theorien im Umlauf sind, an die Operation Sea-Spray in der Bucht von San Francisco oder an die Malaria-Studie von 1940, die im Nürnberger Ärzteprozess eine Rolle spielte. Über all diese Vorfälle gibt es Verschwörungstheorien, auch zu den Einsätzen chemischer und biologischer Waffen im Korea- und Vietnamkrieg, um von laufenden Kriegen ganz zu schweigen.

*** Das Konzept der technologischen Souveränität ist in dieser kleinen Wochenschau des Öfteren ein Thema gewesen. Zeit also, mal das Konzept der Entsouveränisierung vorzustellen, das der V-Theoretiker Buckminster Fuller als Desovereignization entwickelte. Seiner Ansicht nach kontrollieren die geheimen Großen Piraten seit der Bronzezeit, was auf der Erde passiert. Dank des bald die ganze Welt umspannenden Internet, so befand Fuller kurz vor seinem Tod im Jahre 1983, übernehmen die Computer die Kontrolle. Die Großen Piraten können nicht mehr regieren, weil die Macht in das Internet als dezentralisierte Gehirn der Menschen übergeht, mit schnellen algorithmischen Entscheidungsprozessen und mit direkter elektronischer Demokratie. Seine Zukunftsvision unserer Gegenwart:
"Nie zuvor waren die Ungerechtigkeiten und die Wucht einer gedankenlosen Geldmacht so offensichtlich für eine solch gewaltig große Menge gebildeter, kompetenter und konstruktiv denkender Menschen auf der ganzen Welt. Bald wird ein kritischer Moment erreicht sein, in dem die Intuition der verantwortungsgeleiteten Mehrheit, im Gegensatz zu zornigen Maschinenstürmern und rächenden Robin Hoods, angesichts einer umfassenden funktionalen Diskontinuität des nationalen techno-ökonomischen Systems nach weltweiter Reorientierung unserer planetarischen Affären ruft und diese durchsetzt."

Doch wer Visionen hat, benötigt bekanntlich einen Arzt. Nichts ist passiert von dem, was Fuller sich erhoffte und erträumte. Wir leben bekanntlich in Neuland, einer Gegend, die uns sehr vertraut ist, in der es aber unendlich viel zu entdecken gilt. In diesem Neuland kann man twittern, aber auch schwafeln: "Die Grenzen zwischen digitaler und analoger Realität lösen sich in der Digitalität immer mehr auf, Verhaltensmuster aus der Netzwelt formen unser Miteinander." Das ist Thema einer Ausstellung im Frankfurter Museum für Kommunikation, die am Mittwoch beginnt und wegen der Corona-Pandemie nur in einer digitalen Sneak-Preview betreten werden kann. So klickt man sich auf der Couch oder im Home-Office durch eine "netzpolitische Steppe" bis hin zum "Big Data Jungle" und kichert erschröcklich über die "gewaltsame Revolution, die vertraute Werte und Normen durcheinanderwirbelt." So was aber auch.

Was ist eigentlich noch nicht abgesagt in der realen Welt, die auf die Betten in den Intensivstationen schaut und auf die platte Kurve hofft, bis sich eine gewisse Immunität gebildet hat? Genau, die olympischen Spiele soll es geben, drüben in Japan. Daran hält das IOC fest, als wäre Japan auf der Gegenerde.

Ettore Sottsass, Entwurf Dispenser of Incense, LSD, Marijuana,
Opium, Laughing Gas, 1972

Es geht um das viele gute Geld, um Medienrechte und Sponsorengelder, nicht um den Spocht und schon gar nicht um die Athleten, die eigentlich jetzt trainieren müssten auf den verbotenen Sportplätzen. Die Flamme ist in Tokio angekommen und brennt, freut sich Thomas Bach und faselt davon, dass man nicht den "Traum der Athleten" zerstören dürfe. Die nächsten Spiele finden dann in Italien statt, wo ganz andere Träume platzen. (jk)