Hochzeiten für Wikipedia: Dauerhafte Coronavirus-Updates

Hunderttausende informieren sich in der Online-Enzyklopädie über die Pandemie. Das bedeutet Stress für die Autoren.

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Hochzeiten für Wikipedia: dauerhafte Coronavirus-Updates

(Bild: Allmy/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Torsten Kleinz
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Auch Wikipedia wurde von der Corona-Krise erreicht. Die Angestellten der Wikimedia Foundation arbeiten von zu Hause, die Community-Spaces in deutschen Städten sind geschlossen. Doch die Arbeit der freiwilligen Autoren in der Online-Enzyklopädie geht weiter.

Diese Arbeit stößt auf großes Interesse. Allein der Übersichts-Artikel "COVID-19-Pandemie" in der deutschen Wikipedia wird derzeit täglich mehr als 150.000 Mal abgerufen, der Artikel zum konkreten Verlauf der Pandemie knapp 100.000 Mal.

Eine Handvoll freiwilliger Autoren arbeitet teilweise bereits seit Januar an den Artikeln. Als erste Berichte über die Krankheit in China zu lesen waren, zeigten sich zuerst die Autoren interessiert, die sich ohnehin immer wieder mit Krankheitserregern beschäftigen und sie begannen, die Informationen zu sammeln.

Am 14. Januar ging der erste Artikel mit vier Absätzen online. Heute ist der Artikel über den Erreger SARS-CoV-2 34 Druckseiten lang und der Artikel über die von ihm ausgelöste Krankheit COVID-19 umfasst 25 Seiten. Hinzu kommen Hunderte von Seiten, die sich mit dem Verlauf der Pandemie beschäftigen, Fallzahlen auflisten und die gesetzgeberischen Maßnahmen zum Kampf gegen die Pandemie.

Die Masse an Lesestoff schreckt die Nutzer nicht ab – im Gegenteil. "Viele Leser schätzen, dass Wikipedia einen Gegensatz zu den Livetickern darstellt: Sie können sich hier in einem Stück gesammelt über das Thema informieren", erklärt Sandro Halank, der für die Freiwilligenförderung bei Wikimedia Deutschland arbeitet. Während andere Organisationen Probleme haben, sich auf die neue Situation umzustellen, können die Freiwilligen nun ihre Stärken ausspielen. "Wikipedianer sind gewohnt, zu Hause am Rechner zu arbeiten. Viele haben auch die entsprechende Fachliteratur zu Hause", sagt Halank.

heise online hat mit zwei Freiwilligen gesprochen, die sich seit Jahren in Wikipedia engagieren, aber anonym bleiben wollen. Der Autor "Gerbil" ist seit 14 Jahren aktiv und schreibt unter anderem regelmäßig an Artikeln zu vorangegangenen Epidemien wie der Spanischen Grippe oder der Vogelgrippe H5N1 mit. Er ist seit Mitte Januar fester Bestandteil des Autorenteams.

Die aktuelle Zusammenarbeit empfindet er als überwiegend konstruktiv. "Obwohl die Artikel mittlerweile über 150.000 Mal am Tag gelesen werden, gibt es kaum Vandalismus." Dennoch muss die Mitarbeit zeitweise eingeschränkt werden. So sind mehrere Artikel, die auf der Wikipedia-Startseite verlinkt sind, zumindest temporär "geschützt" – das heißt: nur angemeldete Nutzer, die schon einige Tage mitgearbeitet haben, können direkt am Artikel mitarbeiten.

Durch die Sperren werden die Haupt-Autoren etwas entlastet. "Wichtig ist ein fachlicher Hintergrund, damit man die Quellen richtig auswerten kann", erklärt Gerbil. So versuchen viele, Fakten einzubringen, über die sie in den Medien gelesen haben, ohne sie in den größeren Kontext einsortieren zu können. Eine naturwissenschaftliche oder medizinische Ausbildung ist hilfreich.

"Die Diskussions-Seite des Pandemie-Artikels bereitet mir die größten Sorgen", erklärt die Wikipedia-Autorin "A doubt", die sich seit 2013 in der Wikipedia engagiert und bisher hauptsächlich über Mikrobiologie schrieb. "Wenn ich einen Artikel über ein Bakterium oder einen Virus schreibe, bekomme ich sonst maximal alle zehn Tage eine Rückmeldung", sagt sie. Bei dem Artikel über die Corona-Epidemie sammeln sich jedoch täglich mehr als 100 Beiträge.

Seit sie sich dem Thema COVID-19 gewidmet hat, ist ihre Arbeitslast enorm gestiegen. Im Gespräch mit heise online schätzt sie ihre tägliche Aktivität auf fünf Stunden – neben ihrer normalen Arbeit. Einen guten Teil davon verbringt sie damit, die Vorschläge auf den Diskussionsseiten durchzulesen, zu antworten und etwaige Verbesserungen in die Artikel einzupflegen. Von den Mitarbeitern wünscht sie sich zuweilen etwas mehr Sorgfalt. "Wenn man helfen will, ist es wichtig, dass man den Artikel vorher gründlich gelesen hat und zumindest die Überschriften der Diskussionsseiten angesehen hat."

Immerhin: An wissenschaftlichen Quellen besteht derzeit kein Mangel. "Es ist extrem hilfreich, dass viele wissenschaftlichen Fachzeitschriften ihre Artikel kostenfrei im Volltext zur Verfügung stellen", sagt A doubt. Üblicherweise sind wissenschaftlich valide Studien nicht so einfach zu erhalten. Um sicherzugehen, dass diese Studien auch künftig für die Wikipedianer verwertbar sind, speichert sie Gerbil bei archive.org ab. Derzeit werden allerdings viele Vorab-Fassungen von Studien veröffentlicht, die noch keinem Peer Review unterzogen wurden und die daher in die Irre führen könnten, weil sich Zusammenhänge im Nachhinein als falsch erweisen oder ungeeignete Methoden verwendet wurden. "Im Artikel über die Krankheit COVID-19 versuchen wir auf sogenannte Pre-Prints zu verzichten", erklärt A doubt.

Während die deutsche Wikipedia-Community die Arbeit derzeit eher auf informelle Weise organisiert, hat sich die englischsprachige Wikipedia-Community einen formelleren Ansatz gewählt, um die Informationen zum Coronavirus zu kanalisieren und Spam auszusortieren: Sie gründeten das "WikiProject COVID-19". Bisher haben sich schon mehr als 90 Freiwillige gefunden, die geeignete Quellen zusammentragen, Rückmeldung für neue Artikel geben und die Qualität der bestehenden Artikel systematisch überwachen.

Das neuste Projekt: Um gesicherte Informationen auch in Sprachversionen mit weniger aktiven Nutzern verbreiten zu können, werden derzeit Kurz-Versionen der wichtigsten Artikel erstellt, die dann von Freiwilligen in andere Sprachen übersetzt werden. So können sich Wikipedianer, die keine naturwissenschaftliche Ausbildung, aber Sprachkenntnisse haben, an der Arbeit beteiligen. Inzwischen hat sich Katherine Maher, Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation an Autoren und Leser gewandt, um sie auf die gemeinsame Arbeit einzuschwören. "Wir werden rund um die Uhr arbeiten, um Ihnen verlässliche und neutrale Informationen bereitzustellen", erklärt Maher in einer Botschaft, die auf vielen Wikipedia-Ausgaben eingeblendet wird. "Jetzt wie immer ist unser höchstes Ziel uns Ihrem Vertrauen würdig zu erweisen", schreibt Maher aus ihrem Home-Office. (emw)