Kommentar: Der digitale Seuchenpass darf keine Lösung sein

Fabian A. Scherschel sieht im Solutionismus der Technokraten keine Lösung unserer COVID-19-Probleme, sondern die Gefahr eines alptraumhaften Dauerzustands.

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Kommentar: Der digitale Seuchenpass darf keine Lösung sein

(Bild: Digitalphaser / Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Fabian A. Scherschel

Nachdem viele Beobachter die Idee des Contact Tracing per App zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie mittlerweile sehr skeptisch sehen, wird nun das nächste Konzept in Stellung gebracht: Der digitale Seuchenpass. Mehrere Gruppen von Wissenschaftlern und Software-Entwicklern versuchen gerade, ein solches “digitales Gesundheitszertifikat” möglichst datenschutzkonform umzusetzen.

Sie lassen dabei aber die wichtigste Frage, die sich eigentlich zuerst stellen müsste, komplett außer acht. Denn was uns bei diesem Konzept eigentlich interessieren sollte, ist nicht, ob wir solche Daten am besten in einer Blockchain lagern und ob die Krypto des Systems funktioniert, sondern ob diese Idee nicht grundsätzlich dem Schutz der Menschenwürde und dem Schutz vor Diskriminierung widerspricht, die das Fundament unserer Grundrechte bilden.

Ein Kommentar von Fabian A. Scherschel

Fabian A. Scherschel schrieb von 2012 bis 2018 als Redakteur täglich für heise online und c't, zuerst in London auf Englisch, später auf Deutsch aus Hannover. Seit 2019 berichtet er als freier Autor und unabhängiger Podcaster über IT-Sicherheit, Betriebssysteme, Open-Source-Software und Videospiele.

Ein Beispiel: Die Arbeitsgruppe für eine Disposable Health ID (DHID) der Branchenvereinigung IoT Council versucht gerade, eine Methode zu entwickeln, mit der ein Anwender Gesundheitsdaten — etwa aus einem SARS-CoV-2-Antikörpertest — unter eigener Kontrolle in beliebige Gesundheits-IDs einpflegen kann. Die Lebenszeiten dieser IDs und welche Daten sie enthalten, sind komplett unter der Kontrolle des jeweiligen Anwenders. Einzelne IDs können dann etwa genutzt werden, um gegenüber dem Arbeitgeber, einem Event-Veranstalter oder einer Fluggesellschaft zu bezeugen, dass die mit der ID ausgestattete Person gesund ist. Das alles soll mit kryptografischen Signaturen und Blockchain-ähnlichen öffentlichen Ledgern wasserdicht abgesichert werden.

Aber die Frage, die sich hier doch wohl offensichtlich stellt, ist nicht, ob wir eine Blockchain brauchen, oder nicht? Die Frage ist, ob wir in einer Welt leben wollen, in der Menschen wegen der Art der Antikörper in ihrem Blut diskriminiert werden.

Du hattest den Virus schon? Dann kannst du arbeiten gehen. Du wurdest positiv getestet? Dann darfst du sechs Monate nicht fliegen. Es ist offensichtlich, wohin solch eine Technik führt. Auch ist völlig egal, ob Tests und Seuchenpass-Apps freiwillig sind oder nicht. Wenn man das Leben von Menschen aufgrund von freiwilligen Maßnahmen stark einschränkt, hören diese Maßnahmen per definitionem auf, freiwillig zu sein. Wenn Menschen auf einmal ohne Smartphone und Antikörpertest nicht mehr einkaufen oder ihrer Arbeit nachgehen können, sind das keine optionalen Vergnügungen, die ihnen entgehen. Das ist de facto ein Smartphone- und Antikörpertest-Zwang.

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Das nächste Argument der Befürworter solcher Initiativen ist dann, dass das alles natürlich nur vorübergehende Maßnahmen sind. Dass dieses Argument Blödsinn ist, wissen wir spätestens seit dem 11. September 2001.

Kurz nach den Terrorangriffen in den USA wurden weltweit Sicherheitsvorkehrungen im Passagier-Flugverkehr eingeführt, die damals wie heute von Sicherheitsexperten als größtenteils ineffektiv eingeschätzt werden. Aber dieses unnütze Sicherheits-Theater wurde nie wieder abgeschafft und mittlerweile haben wir uns alle daran gewöhnt, dass wir beim Betreten eines Flughafens Rituale durchlaufen, die mehr mit Voodoo als mit effektiven Sicherheitsmaßnahmen zu tun haben.

Genauso wird das mit dem digitalen Seuchenpass auch laufen. Wir sollten also nicht darüber nachdenken, wie wir eine dauerhafte Überwachungstechnik möglichst technologisch einwandfrei in den Rahmen der DSGVO quetschen, wir sollten darüber nachdenken, ob wir in einer dystopischen Welt leben wollen, in der diese Technik existiert. Zumal mir keiner erzählen kann, dass diese Gesundheitszertifikate später nur bei Viruserkrankungen Anwendung finden.

Wir erleben während der aktuellen Notstandssituation gerade das Erstarken eines beängstigenden Trends: Software-Entwickler und das Upper Management in Tech-Firmen geben sich große Mühe dabei, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Welt zu verbessern.

Dabei lassen sie aber völlig außer Acht, was ihr Solutionismus auf lange Sicht mit genau dieser Welt macht. Wie das ausgeht, kann man sehr gut an den letzten zwanzig Jahren Geschichte diverser Großkonzerne und Start-ups ablesen. Google, Facebook, Amazon, Uber und Twitter wollten alle die Welt besser machen und haben dabei die größten gesellschaftlichen Probleme der letzten Jahrzehnte ausgelöst — von massenhafter Spionage in fast allen Bereichen des Privatlebens, über die komplette Erosion des Arbeitsrechts in ganzen Branchen, bis hin zur Bedrohung demokratischer Systeme durch die Allgegenwärtigkeit von Propaganda und Desinformation im öffentlichen Raum.

Wir brauchen diese falschen Propheten, Schlangenöl-Verkäufer und Technokraten nicht. Ihre Heilmittel sind schlimmer als die eigentliche Krankheit. Manche Probleme lassen sich nun mal eben nicht mit Technik lösen. So schwer das für so manchen Startup-Nerd und Silicon-Valley-Milliardär auch zu begreifen sein mag. Wir sollten uns nicht die Zukunft unserer Gesellschaft und die Basis unserer Grundrechte ruinieren lassen, nur weil diese Menschen unterbewusst das Verlangen haben, die Welt zu retten, um ihre früheren Fehltritte zu sühnen. (fab)