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Was war. Was wird. Von Experten und Expertisen.

Ach, Deutsch. Überhaupt: Deutschland. Ein Land selbst mit gebrochenem Herzen lieben, das fällt Hal Faber schwer. Da gibt es besser geeignete Liebesobjekte.

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Was war. Was wird. Von Experten und Expertisen

Bären haben in gewissen digitalen Kreisen einen recht schlechten Ruf. Aber auch IRL möchte man ihnen wohl nur mit gehöriger Distanz begegnen. Wie passend. (Hier passiert übrigens ein Grizzly ganz gelassen eine Straße im Yukon-Territorium.)

(Bild: stephane caron / Shutterstock.com)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Absturz, welcher Absturz? Es geht voran und locker wird's. Tschüss, Homeoffice, du garstiges Ding mit viel zu kleinem Schreibtisch, mit Kindergetrappel oben, Gebrüll unten und den Zimmerleuten gegenüber, die auf Riesengerüsten an Riesenlofts das letzte Bisschen Sonnenstrahlen wegbauen, dass auf den Balkon schien. Willkommen Büro, der schöne Irrsinn wild gestapelter Artikel und Bücher, mit dem leise säuselnden Sound der Scanner, die die Welt digitalisieren. Ganz unpoetisch durften wir diese Woche lernen, wie schön es ist, dass Büro Büro geschrieben wird und nicht etwa Bureau. Zum großen Amüsement in diesen Coronazeiten gehört die Geschichte eines der weltbesten Hacker namens Dimitri Badin, der 2015 den Deutschen Bundestag knackte und 19 Gigabyte Daten abgreifen konnte. Er wird seit dieser Woche mit einem deutschen Haftbefehl gesucht. Nun kommt heraus, dass dieser Superstar mit seinem Superprogramm VSC.exe (Visual Studio Code?) an dem ü scheiterte, das aus aus dem frankophonen Bureau ein trällerndes deutsches Büro macht, in dem die Bürokratie in den gesunden Büroschlaf fällt. Der heimtückische Cyberangriff scheiterte nach dieser Darstellung, weil der Angriff auf das Abgeordnetenbüro von Angela Merkel die denglische Pfadangabe "\Users\Merkel\Büro" beim Umlaut spotzte und ein "\Users\Merkel\B?ro" produzierte. So wurde nicht der Büro-Ordner geöffnet, sondern ein freundliches "File not Found" oder Ähnliches zum russischen Bären geschickt.

*** Ob die Geschichte glaubwürdig ist, steht auf einem anderen Blatt. Der Artikel der Tagesschau stützt sich auf eine Einschätzung des Bundesnachrichtendienstes, der sich "nahezu sicher" ist, dass der russische Militärgeheimdienst GRU hinter der Bärentruppe steht, die sich durch "eine hohe bis punktuell sehr hohe Fachexpertise" auszeichne und über große Finanzmittel und personelle Ressourcen verfüge. Mit sehr hoher Fachexpertise an einem Umlaut scheitern, das hat was. Möglicherweise ist auch die die Expertise des BND von diesem Kaliber: In dieser Woche lancierte besagter Nachrichtendienst in einem Zeitungsartikel das Gerücht, "dass hinter dem Verfahren eine gezielte geheimdienstlich gesteuerte Aktion stecken könnte, um der Bundesrepublik zu schaden". Mit dem Verfahren ist diese Klage von Journalisten gegen die Massenüberwachung des BND gemeint, bei der das Urteil am 19. Mai erwartet wird. Hier werden die Grenzen der Grundrechte ausgeleuchtet, was ehemaligen BND-Hüte gar nicht gerne sehen.

*** Zur Aufgabe des Bundesnachrichtendienstes gehört es, die Arbeit anderer Nachrichtendienste (und nicht von Journalisten-Organisationen) zu bewerten. Am Montag machte der australische Daily Telegraph mit dem Knüller auf, dass ein Geheimdienstpapier der "Five Eyes" Fakten zusammengestellt haben soll, die als Beweise für eine Vertuschung des Coronavirus-Ausbruch durch China herhalten können. Nun entpuppt sich das Geheimdienstpapier als gezielte Falschnachricht, produziert von einem der "Five Eyes". Das sagt jedenfalls der BND, der hilfsweise von einer "Verwechslung" spricht.

*** Wie drückte sich Paul Virillo aus, als er 1995 Microsofts Internet Explorer 1.0 rezensierte und vor dem "Drogenkapitalismus der elektronischen Medien" warnte, den dieses Programm erzeugen würde: "Es gibt keine Information ohne Desinformation. Künftig könnte es eine Desinformation neuen Typs geben, die nichts mit absichtlicher Zensur zu tun hat. Es handelt sich um eine Art Erstickung des Sinnes, eine Art Kontrollverlust der Vernunft. Darin liegt, verursacht durch die Informatik und Multimedia, eine weitere große Gefahr für die Menschheit." Damit kommen wir zu den guten Dingen, denn an diesem Wochenende feiert die deutsche Ausgabe von Le Monde Diplomatique (LMD) ihren 25. Geburtstag mit einer dicken Sondernummer, in der auch Virillos Aufsatz unter dem Titel "Alarm in Cyberspace!" neben vielen anderen denkwürdigen Artikeln aus den vergangenen Jahren abgedruckt ist. 1997 etwa schrieb LMD-Direktor Ignacio Ramonet den Aufruf "Die Märkte entschärfen", was zum Gründungsmanifest von Attac wurde. Ein lesenswertes Stück angesichts der Forderungen, mit ungezügeltem Konsum der Wirtschaft zu helfen, aus dem Lockdown herauszukommen.

*** IANAL, wie es früher einmal hieß. Ich bin kein Jurist. Dennoch ist es nötig, auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hinzuweisen, die am Dienstag für Furore sorgte. Das BVG urteilt, dass die Europäische Zentralbank ultra vires ihre Kompetenzen überschritten hat, als sie mit dem Public Sector Purchase Programme Staatsanleihen aufkaufte und dies vom Europäischen Gerichtshof akzeptiert wurde. Mit der Entscheidung hat sich das BVG gegen den EuGH gestellt und damit eine europäische Institution gemaßregelt, ein einmaliger Vorgang. Entsprechend kühl kommentierte ihn der Europäische Gerichtshof. Das Urteil erging im Vorfeld der Europa-Feierlichkeiten und dürfte Folgen haben. In einfachen Worten drückte es der juristische Kommentator der tageszeitung aus: "Den größten Nutzen aus dem Karlsruher Urteil können vermutlich Problemstaaten wie Polen und Ungarn ziehen, die sich nun gerne auf das Bundesverfassungsgericht berufen werden, wenn sie Brüsseler Vorgaben ignorieren."

*** "Die Befreiung war 1945 von außen gekommen. Sie musste von außen kommen – so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld. [...] Doch auch wir selbst haben Anteil an der Befreiung. Es war die innere Befreiung. Sie geschah nicht am 8. Mai 1945, und nicht an einem einzigen Tag. Sondern sie war ein langer, schmerzhafter Weg. Aufarbeitung und Aufklärung über Mitwisserschaft und Mittäterschaft, quälende Fragen in den Familien und zwischen den Generationen, der Kampf gegen das Verschweigen und Verdrängen. [...] Diese Jahrzehnte des Ringens mit unserer Geschichte waren Jahrzehnte, in denen die Demokratie in Deutschland reifen konnte. Und dieses Ringen, dieses Ringen bleibt bis heute. Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft. [...] Es gibt keinen deutschen Patriotismus ohne Brüche. Ohne den Blick auf Licht und Schatten, ohne Freude und Trauer, ohne Dankbarkeit und Scham. Rabbi Nachman hat gesagt: 'Kein Herz ist so ganz wie ein gebrochenes Herz.' Die deutsche Geschichte ist eine gebrochene Geschichte – mit der Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben. [...] 'Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.' Ich glaube: Wir müssen Richard von Weizsäckers berühmten Satz heute neu und anders lesen. Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich auch an unsere Zukunft richten. 'Befreiung' ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue. Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien! Befreien von der Versuchung eines neuen Nationalismus. Von der Faszination des Autoritären. Von Misstrauen, Abschottung und Feindseligkeit zwischen den Nationen. Von Hass und Hetze, von Fremdenfeindlichkeit und Demokratieverachtung – denn sie sind doch nichts anderes als die alten bösen Geister in neuem Gewand. Wir denken an diesem 8. Mai auch an die Opfer von Hanau, von Halle und von Kassel. Sie sind durch Corona nicht vergessen!" So sei es. Oder, um es mit Little Richard zu sagen, der nun leider auch von uns gegangen ist: Got me run, hide, hide, run anyway you want to let it roll.

Die re:publica liegt hinter uns, und weiter geht es im Reigen der Online-Konferenzen. Es folgt die DLD Sync als Online-Ausgabe der DLD, wiederum gefolgt von der Digital X der Telekom mit dem zugeschalteten Exilanten Edward Snowden. Bereits jetzt signalisieren Black Hat und Defcon, dass sie online stattfinden werden. Während die hub.berlin des Bitkom gleich aufs nächste Jahr verschoben wird, ist noch unklar, was mit dem Big Data AI.Summit passieren wird.

So ist es schwierig, sich über die Fortschritte bei Big Data und AI/KI zu informieren, aber es gibt ja noch Bücher und wissenschaftliche Paper. Ein bemerkenswerter Durchbruch soll den Erforschern der Künstlichen Intelligenz gelingen sein, mit einem Programm, dass ohne jegliche rassistische Vorurteile allein auf Basis der Gesichtserkennung mit 80-prozentiger Genauigkeit feststellen kann, wer kriminell ist und wer nicht. Jedenfalls war dies einer Pressemitteilung der Harrisburg University zu entnehmen, die mittlerweile zurückgezogen wurde. Aber vielleicht ist auch das nur verschoben. Denn interessant wäre es schon, wenn die Kriminologie eines Cesarae Lombroso und die Phrenologie von Franz Joseph Gall mit der KI zusammenkommen. Nicht jeder hat die natürliche Intelligenz des amtierenden US-Präsidenten, der bei den Demonstrationen gegen die Aufenthalts-Auflagen im Zeicen des Coronavirus die Good Guys von den Bad Guys unterscheiden kann.

Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Erinnert sich noch jemand an das AI-Startup Clearview, das mir nichts, dir nichts Fotos sammelte für die perfekte Gesichtserkennung? Auch auf erkennungsdienstliche Polizeifotos war man scharf. Jetzt schließt sich ein Kreis: Clearview verzichtet nach diesem Bericht auf Privatkunden und will in Zukunft nur noch mit Polizeien und Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. Die Gesichtserkennungssoftware soll dabei auch bei der Kontaktverfolgung von Infizierten mit dem Coronavirus zum Einsatz kommen.

In diesen Tagen hat sich das Virus besonders bösartig gezeigt, infiziert es doch die Hirne von Protestierern, die an diesem Wochenende mit Parolen wie "Wir sind das Volk" querfrontheischend und gröhlend durch die Straßen laufen. Das diese Durchgeknallten kein neues Phänomen ist, beweist ein Gedicht über die "Spanische Grippe" aus dem Schweizer Nebelspalter, das so endet, nachdem die Regierung mit Verboten und Sperren erfolgreich war:

"Regierung, he! Bist du verrückt –
Was soll das alles heißen?
Was soll der Krimskrams, der uns drückt,
Ihr Weisesten der Weisen?

Sind wir denn blos zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zu Fastnachtszeiten -- ha!"
So gröhlt und tobt die Meute.

"Die Kirche mögt verbieten ihr,
Das Singen und das Beten –
Betreffs des anderen lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten!

Das war es nicht, was wir gewollt,
Gebt frei das Tanzen, Saufen,
Sonst kommt das Volk -- horcht wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!"

Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, sie blinzelt leise
Und spricht: "Na, endlich – also doch!"
Und lacht auf häm'sche Weise.

"Ja, ja – sie bleibt doch immer gleich
Die alte Menschensippe!"
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs Neu' die Hippe.

(jk)