Kommentar: Das Coronavirus entzaubert das Silicon Valley
Die Pandemie zeigt, dass die USA nicht mehr besonders gut darin sind, Technologien zu entwickeln, die fĂĽr unsere grundlegendsten BedĂĽrfnisse relevant sind.
- David Rotman
KĂĽrzlich machte die Silicon-Valley-Ikone Marc Andreessen seinem Ă„rger ĂĽber das Versagen der USA in der ÂCoronavirus-Pandemie Luft. In einem Beitrag auf der Webseite seiner Investmentfirma diagnostizierte er "ein ÂVersagen des Handelns und insbesondere unsere Unfähigkeit, Dinge zu fertigen". Er fragt, warum die USA keine Impfstoffe und Medikamente haben, ja nicht einmal Masken und BeatmungsÂgeräte. "Wir könnten diese Dinge haben, aber wir haben uns dafĂĽr entschieden, sie nicht zu haben – insbesondere haben wir uns dafĂĽr entschieden, nicht die Mechanismen, die Fabriken und die Systeme zu haben, um diese Dinge herzustellen. Wir haben uns dafĂĽr entschieden, nicht zu fertigen."
Man vergisst fĂĽr einen Moment, dass dies von demselben Mann kommt, der 2011 berĂĽhmterweise erklärt hat, "warum Software die Welt frisst". Aber Andreessen hat nicht ganz unrecht. Die Coronavirus-Pandemie hat viel von dem offenbart, was in Politik und Gesellschaft in Amerika zerbrochen und Âzerfallen ist. Die Unfähigkeit, jene Medikamente und Geräte herzustellen, die dringend nötig sind, etwa persönliche SchutzausrĂĽstung und lebenswichtige VersorgungsgĂĽter, ist ein tödÂliches Beispiel.
Corona-Pandemie zeigt die Grenzen von Big Tech
Silicon Valley und Big Tech im Allgemeinen haben lahm auf die Krise reagiert. Sicher, sie haben uns Zoom zur Verfügung gestellt, damit die Glücklichen unter uns weiterarbeiten können, und Netflix, damit wir bei Verstand bleiben. Amazon ist heutzutage ein Retter für diejenigen, die Geschäfte meiden. iPads sind sehr gefragt, und der Lieferdienst Instacart trägt dazu bei, viele Menschen zu ernähren, die sich derzeit selbst in Quarantäne begeben. Die Pandemie hat aber auch die Grenzen und die Ohnmacht der reichsten Unternehmen der Welt (und, wie uns gesagt wurde, des innovativsten Ortes der Welt) angesichts der Krise der öffentlichen Gesundheit offenbart.
Big Tech baut nichts auf. Es wird uns wahrscheinlich keine Impfstoffe oder diagnostischen Tests liefern. Wir scheinen nicht einmal zu wissen, wie man ein Wattestäbchen herstellt. Diejenigen, die hoffen, die USA könnten ihre dominante Technologieindustrie in einen Innovationsdynamo gegen die Pandemie verwandeln, werden enttäuscht werden.
Das ist keine neue Beschwerde. Vor einem Jahrzehnt, im ÂGefolge der Finanzkrise, die wir einst "die" groĂźe Rezession nannten, schrieb Andrew Grove, frĂĽher ein CEO von Intel, einen Artikel in der "Bloomberg Businessweek". Er beklagte den Verlust der amerikanischen Fertigungskapazitäten. Diejenigen, die argumentierten, wir sollten "mĂĽde alte Unternehmen, die in der Rohstoffherstellung tätig sind, sterben lassen", seien im Irrtum: Skalierung und Massenproduktion von Produkten bedeutet, Fabriken zu bauen und Tausende von Arbeitern einzustellen.
"Verlust unserer Fähigkeit zur Innovation"
Doch Grove machte sich nicht nur Sorgen ĂĽber die verlorenen Arbeitsplätze, die durch die Produktion von iPhones und Mikrochips im Ausland weggefallen sind. Er schrieb: "Der Verlust der ÂFähigkeit zur Skalierung wird letztlich unsere Fähigkeit zur Innovation beeinträchtigen."
Die Pandemie hat dieses schwelende Problem deutlich gemacht: Die USA sind nicht mehr sehr gut darin, neue Ideen und Technologien zu entwickeln, die fĂĽr unsere grundlegendsten BedĂĽrfnisse relevant sind. Sie sind groĂźartig darin, glänzende, hauptsächlich softwaregesteuerte Klunker zu entwickeln, die unser Leben in vielerlei Hinsicht angenehmer machen. Aber die USA sind weitaus Âweniger gut darin, das Gesundheitswesen neu zu erfinden, das Bildungswesen neu zu ĂĽberdenken, die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung effizienter zu gestalten und generell unser technisches Know-how auf die größten Wirtschaftssektoren auszurichten.
Ă–konomen messen technologische Innovation gern als ProduktiÂvitätswachstum. In den letzten zwei Jahrzehnten waren diese Zahlen fĂĽr die USA dĂĽster. Selbst als das Silicon Valley und die Hightech-Industrien boomten, verlangsamte sich das Produktivitätswachstum.
Nach der Covid-19-Pandemie
Das letzte Jahrzehnt war besonders enttäuschend, sagt John Van Reenen, ein Ă–konom am Massachusetts Institute of Technology. Er argumentiert, dass Innovation die einzige Möglichkeit fĂĽr ein fortgeschrittenes Land wie die USA ist, langfristig zu wachsen. Ăśber die GrĂĽnde fĂĽr das schleppende Produktivitätswachstum wird viel debattiert. Van Reenen zufolge gibt es jedoch reichlich Beweise ÂdafĂĽr, dass ein Mangel sowohl an unternehmensfinanzierter als auch staatlich geförderter Forschung und Entwicklung ein groĂźer Faktor sei.
Seine Analyse ist besonders relevant, weil wir in dem MaĂźe, wie sich die USA von der Covid-19-Pandemie zu erholen beginnen und die Unternehmen neu starten, verzweifelt nach Möglichkeiten suchen werden, Hochlohnjobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Schon vor der Pandemie schlug Van Reenen Â"einen massiven Pool von F&E-Ressourcen vor, die in Bereiche Âinvestiert werden, in denen das Marktversagen am größten ist, zum Beispiel im Bereich des Klimawandels". Schon jetzt erneuern viele ihre Forderungen nach einem grĂĽnen Stimulus und größeren Investitionen in dringend benötigte Infrastruktur.
Die Pandemie könnte also der Weckruf sein, den das Land braucht, um mit der Lösung dieser Probleme zu beginnen.
Dieser Kommentar stammt aus der aktuellen Juni-Ausgabe 6/2020 von Technology Review, die sich bequem online bestellen lässt, aber auch im Handel erhältlich ist.
(jle)