Kommentar: Das Coronavirus entzaubert das Silicon Valley

Die Pandemie zeigt, dass die USA nicht mehr besonders gut darin sind, Technologien zu entwickeln, die für unsere grundlegendsten Bedürfnisse relevant sind.

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Kommentar: Das Coronavirus entzaubert das Valley

(Bild: Om Malik / Unsplash)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • David Rotman
Inhaltsverzeichnis

Kürzlich machte die Silicon-Valley-Ikone Marc Andreessen seinem Ärger über das Versagen der USA in der ­Coronavirus-Pandemie Luft. In einem Beitrag auf der Webseite seiner Investmentfirma diagnostizierte er "ein ­Versagen des Handelns und insbesondere unsere Unfähigkeit, Dinge zu fertigen". Er fragt, warum die USA keine Impfstoffe und Medikamente haben, ja nicht einmal Masken und Beatmungs­geräte. "Wir könnten diese Dinge haben, aber wir haben uns dafür entschieden, sie nicht zu haben – insbesondere haben wir uns dafür entschieden, nicht die Mechanismen, die Fabriken und die Systeme zu haben, um diese Dinge herzustellen. Wir haben uns dafür entschieden, nicht zu fertigen."

TR 6/2020

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 6/2020 der Technology Review. Das Heft ist ab 14.5.2020 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Man vergisst für einen Moment, dass dies von demselben Mann kommt, der 2011 berühmterweise erklärt hat, "warum Software die Welt frisst". Aber Andreessen hat nicht ganz unrecht. Die Coronavirus-Pandemie hat viel von dem offenbart, was in Politik und Gesellschaft in Amerika zerbrochen und ­zerfallen ist. Die Unfähigkeit, jene Medikamente und Geräte herzustellen, die dringend nötig sind, etwa persönliche Schutzausrüstung und lebenswichtige Versorgungsgüter, ist ein töd­liches Beispiel.

David Rotman ist Redakteur der US-Ausgabe der MIT Technology Review.

Silicon Valley und Big Tech im Allgemeinen haben lahm auf die Krise reagiert. Sicher, sie haben uns Zoom zur Verfügung gestellt, damit die Glücklichen unter uns weiterarbeiten können, und Netflix, damit wir bei Verstand bleiben. Amazon ist heutzutage ein Retter für diejenigen, die Geschäfte meiden. iPads sind sehr gefragt, und der Lieferdienst Instacart trägt dazu bei, viele Menschen zu ernähren, die sich derzeit selbst in Quarantäne begeben. Die Pandemie hat aber auch die Grenzen und die Ohnmacht der reichsten Unternehmen der Welt (und, wie uns gesagt wurde, des innovativsten Ortes der Welt) angesichts der Krise der öffentlichen Gesundheit offenbart.

Big Tech baut nichts auf. Es wird uns wahrscheinlich keine Impfstoffe oder diagnostischen Tests liefern. Wir scheinen nicht einmal zu wissen, wie man ein Wattestäbchen herstellt. Diejenigen, die hoffen, die USA könnten ihre dominante Technologieindustrie in einen Innovationsdynamo gegen die Pandemie verwandeln, werden enttäuscht werden.

Das ist keine neue Beschwerde. Vor einem Jahrzehnt, im ­Gefolge der Finanzkrise, die wir einst "die" große Rezession nannten, schrieb Andrew Grove, früher ein CEO von Intel, einen Artikel in der "Bloomberg Businessweek". Er beklagte den Verlust der amerikanischen Fertigungskapazitäten. Diejenigen, die argumentierten, wir sollten "müde alte Unternehmen, die in der Rohstoffherstellung tätig sind, sterben lassen", seien im Irrtum: Skalierung und Massenproduktion von Produkten bedeutet, Fabriken zu bauen und Tausende von Arbeitern einzustellen.

Doch Grove machte sich nicht nur Sorgen über die verlorenen Arbeitsplätze, die durch die Produktion von iPhones und Mikrochips im Ausland weggefallen sind. Er schrieb: "Der Verlust der ­Fähigkeit zur Skalierung wird letztlich unsere Fähigkeit zur Innovation beeinträchtigen."

Die Pandemie hat dieses schwelende Problem deutlich gemacht: Die USA sind nicht mehr sehr gut darin, neue Ideen und Technologien zu entwickeln, die für unsere grundlegendsten Bedürfnisse relevant sind. Sie sind großartig darin, glänzende, hauptsächlich softwaregesteuerte Klunker zu entwickeln, die unser Leben in vielerlei Hinsicht angenehmer machen. Aber die USA sind weitaus ­weniger gut darin, das Gesundheitswesen neu zu erfinden, das Bildungswesen neu zu überdenken, die Nahrungsmittelproduktion und -verteilung effizienter zu gestalten und generell unser technisches Know-how auf die größten Wirtschaftssektoren auszurichten.

Ökonomen messen technologische Innovation gern als Produkti­vitätswachstum. In den letzten zwei Jahrzehnten waren diese Zahlen für die USA düster. Selbst als das Silicon Valley und die Hightech-Industrien boomten, verlangsamte sich das Produktivitätswachstum.

Das letzte Jahrzehnt war besonders enttäuschend, sagt John Van Reenen, ein Ökonom am Massachusetts Institute of Technology. Er argumentiert, dass Innovation die einzige Möglichkeit für ein fortgeschrittenes Land wie die USA ist, langfristig zu wachsen. Über die Gründe für das schleppende Produktivitätswachstum wird viel debattiert. Van Reenen zufolge gibt es jedoch reichlich Beweise ­dafür, dass ein Mangel sowohl an unternehmensfinanzierter als auch staatlich geförderter Forschung und Entwicklung ein großer Faktor sei.

Seine Analyse ist besonders relevant, weil wir in dem Maße, wie sich die USA von der Covid-19-Pandemie zu erholen beginnen und die Unternehmen neu starten, verzweifelt nach Möglichkeiten suchen werden, Hochlohnjobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Schon vor der Pandemie schlug Van Reenen ­"einen massiven Pool von F&E-Ressourcen vor, die in Bereiche ­investiert werden, in denen das Marktversagen am größten ist, zum Beispiel im Bereich des Klimawandels". Schon jetzt erneuern viele ihre Forderungen nach einem grünen Stimulus und größeren Investitionen in dringend benötigte Infrastruktur.

Die Pandemie könnte also der Weckruf sein, den das Land braucht, um mit der Lösung dieser Probleme zu beginnen.

Dieser Kommentar stammt aus der aktuellen Juni-Ausgabe 6/2020 von Technology Review, die sich bequem online bestellen lässt, aber auch im Handel erhältlich ist.

(jle)