Klassiker neu gelesen: Neuromancer

Hiermit hat alles angefangen: Dieses Buch ist die Ur-Erzählung des Cyberpunk.

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"Neuromancer" ist die Geschichte einer düsteren, dystopischen Hightech-Welt, in der kybernetisch aufgemotzte Banditen sich im globalen Datennetz um die Krümel streiten, die von den Tischen der allmächtigen globalen Konzerne fallen. Das mag uns heute nur allzu bekannt vorkommen. 1984, als der Roman zum ersten Mal erschien, war das brandneu. Selbst das Internet existierte erst in embryonaler Form.

Was William Gibson nicht daran gehindert hat, in „Neuromancer“ vom „Cyberspace“ zu erzählen. Einem globalen virtuellen Raum, der alles und jeden miteinander vernetzt. In den Schatten dieses Datenraums treiben die „Konsolen-Jockeys“ ihr Unwesen – Hacker, die für Geld in jedes System einsteigen, um Daten zu klauen. Case, die Hauptperson, war ein solcher Hacker, aber er ist bei einem Auftrag gescheitert und schlägt sich nun ausgebrannt und drogenabhängig in Chiba durch. Bis Molly auftaucht, die ihn für einen geheimnisvollen Auftraggeber wieder fit macht.

Stilistisch orientiert sich Gibson an den Romanen der schwarzen Serie aus den 30er-Jahren: Alles ist düster, kaputt, krank – und alle sind unglaublich cool. „Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal eingestellt war“, erzählt Gibson. „Der Barkeeper grinste. Seine Hässlichkeit war legendär. Im Zeitalter käuflicher Schönheit hatte sein Mangel daran Signalwirkung.“ Leider enthalten die antiquarischen Ausgaben des Buches diverse Übersetzungsfehler, die manchmal putzig sind, gelegentlich aber die Sprache von Gibson noch kryptischer machen, als sie ohnehin schon ist.

Dennoch ist das Buch kein Trash. Denn erstens galt die Kombination von Punk-Ästhetik und intellektueller Gesellschaftskritik als stilbildend. Und zweitens bietet Gibson einen kühnen Ausblick in die global vernetzte Zukunft, der noch immer aktuell ist. Denn Gibson hat nicht nur eine Vision des Internets entworfen. Er hat auch aus einer Welt berichtet, in der Hirn-Computer-Schnittstellen genauso allgegenwärtig sind wie fortgeschrittene Biotechnologie. Diese Zukunft, in der uns die Technik immer dichter auf den Leib rückt, in der Mensch und Lebewesen verschmelzen, in der die Frage, was genau eigentlich menschlich ist, auf der Tagesordnung steht, ist noch offen – und wir stehen an ihrer Schwelle.

Buch: William Gibson - "Neuromancer"
Verlag: Heyne, 1987, Neuauflage im Sammelband „Die Neuromancer-Trilogie“, 2014
Preis: 10,99 Euro

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(bsc)