Ist das Coronavirus luftgetragen, müssen wir es gründlicher bekämpfen

Übertragen auch winzige Aerosoltröpfchen Sars-CoV-2, hat das Virus eine größere Reichweite und kann auch in Innenräumen eine krankmachende Dosis aufbauen.

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Ist das Coronavirus luftgetragen, müssen wir es gründlicher bekämpfen

(Bild: Photo by engin akyurt on Unsplash)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Neel V. Patel
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Anfang Juli wurde die Möglichkeit der Luftübertragung von Sars-CoV-2 zum großen Thema in der öffentlichen Diskussion. Mehr als 200 Wissenschaftler aus aller Welt hatten in einem Brief an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gefordert, die wachsenden Beweise dafür ernst zu nehmen. Die WHO klassifizierte das Covid-19 verursachende Virus daraufhin zwar immer noch nicht als luftgetragen, räumte aber ein, dass weitere Forschung "dringend erforderlich ist, um solche Fälle zu untersuchen und ihre Bedeutung für die Übertragung zu bewerten".

Das geht manchem Forscher nicht schnell genug. "Ich weiß nicht, wie viel klarer die wissenschaftlichen Beweise sein müssen", schimpft der Mikrobiologe Chad Roy von der Tulane University in den USA. Sein Team hat in einer neuen Studie gezeigt, dass infektiöse aerosolierte Partikel mit SARS-CoV-2 bis zu 16 Stunden in der Luft verbleiben. Weitere große Studien weisen zudem auf die Luftübertragung des Virus als Hauptausbreitungsweg und darauf hin, dass das Virus mehrere Stunden in Aerosolen verbleibt.

Wenn Experten sagen, dass ein Virus luftgetragen ist, meinen sie typischerweise, dass es sich mithilfe winziger Tröpfchen, sogenannten Aerosolen, über große Entfernungen wie mehrere Räume ausbreiten und dann eingeatmet werden kann. "Einige Experten werden sagen, dass das Virus nicht luftgetragen ist, weil wir keine Weitergabe über diese Entfernungen hinweg sehen", sagt Lisa Brosseau, pensionierte Professorin für öffentliche Gesundheit, die Unternehmen und Organisationen berät. Sie selbst allerdings erinnert das Verbreitungsmuster des Virus durch sogenannte Super-Spreader, also Menschen, die viel größere Virenmengen auszuscheiden scheinen als andere und dadurch mehr Menschen anstecken, an die Verbreitung des ebenfalls luftgetragenen Tuberkulose-Bakteriums.

Diskutiert wird aber nicht nur die Definition von "luftgetragen", sondern auch des Begriffes "Aerosol". Meist beschreibt er winzige, nur wenige Mikrometer große Tröpfchen. Wo aber die genaue Grenze zu den größeren, schnell auf den Boden oder Oberflächen fallenden Tröpfchen verläuft, wird unterschiedlich definiert. Möglicherweise ist die genaue Größenabgrenzung unerheblich, solange die kleineren Aerosole durch die längere Verweildauer in der Luft mit größerer Wahrscheinlichkeit eingeatmet werden.

Die Frage, ob das Virus luftgetragen ist oder nicht, ist nicht rein wissenschaftlicher Natur. Ist Sars-CoV-2 tatsächlich luftgetragen, müssten Länder wie die USA, die das Virus nicht eingedämmt haben, ihre Wirtschaft nicht nur langsamer öffnen, sondern auch mit strengeren Vorschriften. Tulane-Forscher Roy sähe gerne eine strenge Maskenpflicht für alle, die ihr Haus verlassen. "Dieses Virus wird wie verrückt ausgeschieden", sagt er. "Das Maskentragen kann unglaublich viel dazu beitragen, die Übertragungskette zu unterbrechen. Alles, was für Masken wirbt, um die Aerosolfreisetzung zu stoppen, wäre hilfreich."

Brosseau warnt, dass Masken nur die Ausbreitung der größeren Tröpfchen begrenzen, kaum aber die der kleineren Aerosole, insbesondere wenn die Maske zu lose sitzt. Trotzdem neigt sie den Beweisen zu, die eine Luftübertragung als „primäre und möglicherweise wichtigste Übertragungsart für SARS-CoV-2“ nahelegen. Dafür „müssen wir uns nicht so viele Sorgen um die Reinigung von Oberflächen machen, die wir berühren.“

Auch die Antwort auf die große Frage, welche Virendosen für eine Erkrankung nötig sind, würde durch eine Aerosol-Übertragung verändert. Bisher schienen die kleineren Partikel keine große Rolle zu spielen, weil sie keine so große Viruslast wie die größeren tragen. Da sie aber viel länger in der Luft verweilen, bauen sich mit der Zeit trotzdem größere Konzentrationen auf. Zudem verteilen sie sich umso weiter, je länger eine infizierte Person sich an einem Ort aufhält und Viren verbreitet.

Je mehr Personen nun Innenräume betreten oder sie verlassen, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Infizierter dabei ist. Je länger er sich dann in diesem Raum aufhält, desto höher steigt die Viruskonzentration in der Luft. Dies ist eine besonders schlechte Nachricht für Räume, in denen sich Menschen stundenlang versammeln, wie Restaurants, Bars, Büros, Klassenzimmer und Kirchen.

Luftübertragung bedeutet zwar nicht unbedingt, dass diese Orte geschlossen bleiben müssen (obwohl dies ideal wäre). Aber das Desinfizieren von Oberflächen und das Tragen von Masken werden nicht reichen. Um sie sicher wieder zu öffnen, müssen diese Orte sowohl die maximale Zahl der Besucher sowie ihre Aufenthaltszeit begrenzen. Ein größerer sozialer Abstand als zwei Meter würde auch zur Sicherheit der Menschen beitragen. Darüber hinaus müssen Klimaanlagen mit Frischluft ebenfalls eine höhere Priorität bekommen. Das dürfte besonders bei älteren Gebäuden mit schlechten Lüftungssystemen ein großes Problem sein.

Sobald der Herbst mit kälterem Wetter und der nächsten Grippesaison kommt, könnten viele Orte das Virus nur durch tiefgreifende Maßnahmen in den Griff kriegen. "Wir müssen Bars und Restaurants subventionieren, damit sie geschlossen bleiben können", sagt Donald Milton, Aerobiologie-Experte an der University of Maryland und einer der federführenden Autoren des Briefes an die WHO. "Wir müssen die Belüftung verbessern, wo wir können, und die Luftreinigung mit keimtötendem UV-Licht im oberen Teil von Räumen sowie fernem UV-Licht an Orten, die geöffnet sein müssen, wie Grundschulen, so weit wie möglich nutzen. Wir brauchen einen gestaffelten Arbeitsbeginn und müssen die Personendichte in öffentlichen Verkehrsmitteln niedrig halten oder Fenster öffnen. Und wir müssen Masken tragen."

Tatsächlich lieferten Untersuchungen des US-Heimatschutzministeriums über den Einsatz von UV-Licht kürzlich eine gute Nachricht: Auf aerosolierten Partikeln von der Größe, wie sie die Tulane-Forscher untersucht haben, verschwand das Coronavirus in der Gegenwart von UV-Licht in weniger als einer Minute. Einige Unternehmen haben deshalb damit begonnen, Orte wie Krankenzimmer, Einkaufszentren, Geschäfte und öffentliche Verkehrsmittel mithilfe von UV-freisetzenden Robotern zu desinfizieren.

Korrektur, 16.7., 13.15 Uhr: Der letzte Abschnitt wurde dahingehend präzisiert, dass nicht die Aerosole mittels UV-Licht verschwanden, sondern die darin enthaltenen Viruspartikel. jle

(vsz)