Der Algorithmus mit der Peitsche

Chinesische Lieferdienstplattformen versuchen Einstein zu widerlegen: Ihre Fahrer sollen ihre Aufträge mit Uberlichtgeschwindigkeit erledigen.

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Von
  • Peter Glaser

Aufseher und Antreiber gibt es seit jeher, vom Galeerentrommler bis zum Druckertreiber. Die Picker etwa – jene Arbeiter bei Amazon, die in den weitläufigen Lagerhallen der Logistikzentren die einzelnen Produkte aus den Regalen picken – werden von vernetzten Scannern gesteuert, die sie bei sich tragen. "Selbst die Wege, die man … nimmt, sind genau vorgeschrieben. So wird man quasi zur Verlängerung der Maschine", berichtet ein ehemaliger Picker. "Das Einzige, was die Schichtführer interessiert, ist, dass man schnell ist und sein Soll erfüllt."

Auch die Algorithmisierung von Arbeitsabläufen schreitet voran, das heißt, der humanoide Schichtführer wird durch Software ersetzt, die im Dienste der Effizienz ein Konzept wie Skrupel nicht mehr kennt. In China entscheiden rücksichtslose Algorithmen etwa darüber, wie lange ein Lieferdienst-Fahrer maximal brauchen darf, um einen Auftrag zu erledigen. Kann man die Frist nicht einhalten, wird einem automatisch der Verdienst gekürzt. Willkommen in der neuen Arbeitswelt. Für die Millionen chinesischer Gig-Jobber, die das in der Corona-Krise rapide angewachsene Auftragsvolumen der großen Bringdienstplattformen abarbeiten, ist der Algorithmus mit der Peitsche bereits Realität.

Der Konkurrenzkampf zwischen Meituan-Dianping, dem inzwischen drittwichtigsten börsennotierten Technologieunternehmen Chinas, und dem 2008 in Shanghai gegründeten Lieferdienst ele.me hat immer billigere und schnellere Bringdienste hervorgebracht. Inzwischen kann man sich auch schon allgemeine Besorgungen abnehmen lassen. Die Rivalität ist zugleich ein Stellvertreterkrieg zwischen dem Social-Media-Giganten Tencent, der in Meituan investiert hat, und dem E-Commerce-Monolithen Alibaba, der Ele.me vor zwei Jahren aufgekauft hat.

Die ständig steigende Nachfrage führt dazu, dass die Lieferanten auf immer halsbrecherische Weise versuchen, unzumutbare Fristen einzuhalten. Schlechte Bewertungen wegen verspäteter Lieferung können eine deutliche Dezimierung oder den Totalverlust des Einkommens bedeuten. Die Notlage der Fahrer wird im chinesischen Netz immer wieder thematisiert. Vor kurzem sorgte eine Reportage in dem renommierten Magazin Ren Wu ("Leute") für deutlich mehr Aufregung als sonst. In der Langzeitreportage wird beschrieben, wie die Fahrer unter Druck gesetzt werden. Bereits im vergangenen Jahr sahen viele von ihnen die Zeitmaxima, die ihnen für ihre Routen vorgegeben worden waren, offenbar aufgrund von Algorithmusänderungen schrumpfen. Von Lieferfahrern wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verursachte Strafmandate aus Städten in ganz China belegen den extremen Zeitdruck, unter den die Dienstleister gesetzt werden. In einem Fall etwa wurde die Zeitvorgabe für eine 50-Minuten-Route kommentarlos auf 35 Minuten gekürzt.

Das Problem ist im übrigen nicht auf China beschränkt. Der Komfort, auf den zahllose Menschen, ob aus der Quarantäne, vom Home Office aus, oder schlicht aus Bequemlichkeit zurückgreifen können, basiert auf äußerst unkomfortablen Arbeitsverhältnissen ohne Sozialversicherung und nicht selten auch ohne jeden Schutz vor der Gefährdung durch das Corona-Virus. Offizielle Stellen beginnen gerade erst, ihr Augenmerk auf das Problem zu richten. In Kalifornien schreibt ein neues Gesetz für Gig-Arbeiter vor, dass Unternehmen wie Uber und Lyft ihre Arbeiter wie Angestellte behandeln müssen. Die großen Fahrdienstplattformen hatten ihre Arbeitskräfte zuvor zwar in den Nutzungsbedingungen pauschal zu Selbstständigen erklärt, die Preisgestaltung aber selbst bestimmt.

Die Reportage über das Elend der Fahrer schlug hohe Wellen. Als Reaktion darauf teilte Meituan-Dianping mit, den Fahrern für jeden Auftrag nunmehr acht Minuten mehr Zeit einzuräumen. Auch die Ele.me-Lieferanten haben neuerdings fünf bis zehn Minuten mehr Zeit. Was echte Veränderungen angeht, sind solche Zugeständnisse aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

(bsc)