Mit tausend Augen

Während Datenschützer und Netzaktivisten noch gegen die beständige Ausweitung der Gesichtserkennung kämpfen, rollt schon die nächste Welle der Überwachungstechnologie an.

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Sie beobachten uns. Fast immer und überall. Mit der Verfügbarkeit von immer besseren Kameras, mehr Bandbreite, und immer besserer Soft- und Hardware breiten sich Anwendungen von Gesichtserkennung aus, wie Pilze in einem herbstlichen Wald. China ist hier Vorreiter - aber auch in westlichen Ländern wie den USA verkaufen sich vernetzte Türkameras wie geschnitten Brot. Gleichzeitig setzen Cloud und maschinelles Lernen auf dieser wachsenden Überwachungs-Infrastruktur auf und bieten Zusatz-Dienstleistungen wie Anomalie- oder Emotionsanalyse.

Der unbestreitbare technische Fortschritt sollte einen zwar nicht zwar dazu verführen, die Technologie zu überschätzen. Der Feldversuch mit Gesichtserkennung am Bahnhof Südkreuz in Berlin vor zwei Jahren ist laut Abschlussbericht zwar gut gelaufen. Kritiker der Überwachungstechnologie wie der CCC werten die „wenigen veröffentlichten Zahlen“ aber als Misserfolg.

Das politische Misstrauen gegenüber den Fortschritten der Überwachungstechnologie bleibt jedoch berechtigt, Sie führt zwar gelegentlich, wie zum Beispiel in Portland, auch zum Verbot automatisierter Gesichtserkennung. Das Problem ist allerdings, dass solche Regulierungen immer nur die Symptome bekämpfen, und dass nach der automatisierten Gesichtserkennung bereits die nächste Überwachungstechnologie in den Startlöchern steht: Die Gangerkennung.

Der New Scientist berichtet in einem ausführlichen Artikel von bemerkenswerten Fortschritten auf diesem Gebiet: So hat die chinesische Firma Matrix nach eigenen Angaben ein System entwickelt, das Menschen auf 50 Meter Entfernung mit einer Genauigkeit von 94 Prozent identifizieren kann.

Denn das ist das charmante an der Ganganalyse: Der menschliche Gang ist zwar ähnlich spezifisch wie das Gesicht. Um ihn zu analysieren, braucht man aber weniger gut ausgeleuchtet Bildmaterial. Im Zweifelsfall reichen sogar die Daten vom Beschleunigungsmesser des Smartphones in der eigenen Hosentasche. Als ich das gelesen habe, musste ich an einen Kongress denken, den ich Ende der 90er besucht habe.

Da ging es um „intelligente Umgebungen“, die mit möglichst wenig Sensordaten herausfinden sollten, was ihr Nutzer gerade tun möchte, um dessen Bedürfnisse möglichst vorausschauend zu erfüllen. Da ist, denke ich mir, technisch noch viel Luft nach oben.

Das heißt aber auch: Mit rein technischer Regulierung ist solch einer Überwachungstechnologie nicht beizukommen. Das ist, um es anders zu formulieren, „End-of-Pipe“-Politik. Um das Phänomen wirklich in den Griff zu bekommen, kann es nicht darum gehen, Überwachungstechnologie zu verbieten. Es muss darum gehen, sie überflüssig zu machen. Das wiederum geht nur, wenn Wissenschaft und Technik ihr universelles Fortschrittsversprechen einlösen: Eine Welt zu ermöglichen, in der soziale Ungleichheit nicht größer sondern kleiner wird.

(wst)