Die X-Akten der Astronomie: Der dunkle Beschleuniger

Seit 30 Jahren rätseln Astronomen über eine Quelle immens energiereicher Gammastrahlung. Der jüngste Erklärungsversuch ist ziemlich komplex.

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Die X-Akten der Astronomie: Der dunkle Beschleuniger

(Bild: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0, heise online)

Lesezeit: 30 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online werden wir in den kommenden Wochen einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vorstellen und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Die X-Akten der Astronomie

Cygnus OB2 ist ein Sternhaufen, in dem es zur Sache geht. Er besteht aus zahlreichen, dicht gepackten jungen Sternen der heißesten Spektralklassen O und B, er enthält den Mikroquasar Cygnus X-3 und kürzlich fand man dort den erst zweiten bekannten Fall eines Gammastrahlen-Doppelsternsystems mit einem Pulsar als Quelle. In derselben Gegend fanden Astronomen vor knapp 30 Jahren eine Gammastrahlenquelle ohne Gegenstück bei anderen Wellenlängen. Woher stammt die Strahlung im Teraelektronenvolt-Bereich?

Astronomische Objekte senden elektromagnetische Strahlung nicht nur in Form von Licht mit Wellenlängen zwischen 400 und 800 nm (Nanometern) aus, sondern über ein breites Spektrum von kilometerlangen Radiowellen bis hinauf zur Röntgen- (10 nm bis hinunter zu 0,005 nm) und der noch kurzwelligeren Gammastrahlung. Die Photonen haben bei diesen Wellenlängen so hohe Energien, dass sie Atomkerne zertrümmern können. Da sie eher sporadisch denn als kontinuierlicher Fluss eintreffen, gibt man nicht mehr ihre Wellenlänge an, sondern üblicherweise ihre Energie in Elektronenvolt. Lichtphotonen haben ein paar eV, Röntgenphotonen zwischen 100 und 10.000. Photonen der Gammastrahlung tragen 100.000 eV (100 keV) und mehr. Manchmal milliardenfach mehr.

Gammastrahlung entsteht im All bei folgenden Prozessen:

  • Kernreaktionen, wie die Fusion oder der Zerfall von Atomkernen. Die Sonne bezieht den Großteil ihrer Energie aus der Gammastrahlung, die bei der in ihrem Inneren ablaufenden Kernfusion frei wird, aber selbst nicht nach außen dringt; auf dem rund 100.000 Jahre dauernden Weg an die Sonnenoberfläche wird sie in Licht und Wärmestrahlung verwandelt. Wenn jedoch etwa bei einer Nova eine thermonukleare Reaktion an der Oberfläche eines Weißen Zwergs zündet, wird ungeschirmte Gammastrahlung frei. Ebenso beim Zerfall radioaktiver Elemente in der Gaswolke, die eine Supernova hinterlässt (Supernovarest). Die Energien der Photonen liegen bei Kernreaktionen in der Größenordnung von 1 bis 10 MeV (Millionen eV).
  • Paarvernichtung von Materie und Antimaterie. Bei Kernreaktionen entstandene Positronen, die Antiteilchen der Elektronen, vernichten sich beim Kontakt mit Elektronen ohne Rest zu zwei Gammaphotonen von je 511 keV, der Ruhemasse der Elektronen und Positronen. Diese Strahlung wird vor allem aus dem Zentrum der Milchstraße empfangen. Möglicherweise produzieren auch Teilchen der Dunklen Materie Paarvernichtungsstrahlung, die man bisher jedoch noch nicht mit Bestimmtheit nachweisen konnte.
  • Bei der Kollision von extrem schnellen Teilchen. Dabei werden oft neue, instabile Teilchen gebildet, die teils unter Ausstrahlung von Gammastrahlung zerfallen.
  • Wenn geladene Teilchen (meist die leichten, allgegenwärtigen Elektronen) stark beschleunigt, abgebremst oder abgelenkt werden. Dies kann in Magnetfeldern passieren (Synchrotronstrahlung), im elektrischen Feld eines Atomkerns (Bremsstrahlung) oder im elektromagnetischen Feld eines Photons (Compton-Streuung). Die Magnetfelder von Neutronensternen sind extrem stark (Millionen Tesla) und können in ihnen wirbelnde Elektronen zur Aussendung von Gammastrahlen veranlassen.
  • Schließlich können energiereiche Teilchen entgegen kommende Photonen reflektieren und sie auf extrem hohe Energien bringen, analog zu einem Ball, der gegen einen entgegenkommenden schnellen Zug getreten wird und mit stark erhöhter Geschwindigkeit abprallt (inverse Compton-Streuung). Dies kann überall passieren, wo Teilchen in Magnetfeldern oder durch eine hohe Temperatur auf große Geschwindigkeiten beschleunigt werden und reichlich Photonen vorhanden sind. Das geschieht etwa in heißen Akkretionsscheiben oder Jets, insbesondere bei der Verschmelzung von Neutronensternen oder der Explosion von Hypernovae. Dieser Prozess ist hauptverantwortlich für Gammaphotonen mit den höchsten Energien.

Gammastrahlen-Astronomie von der Erde aus ist nicht einfach. Die Gammastrahlung erreicht den Erdboden (zum Glück für uns!) nicht. Daher wurden Gammastrahlen-Weltraumteleskope wie Swift, Integral und das Fermi-Gammastrahlen-Weltraumteleskop in den Weltraum geschossen. Sie spüren Strahlung im Bereich von 100 keV = 105 eV und 10 GeV = 1010 eV auf.

Eines der beiden 17 Meter durchmessenden MAGIC-Tscherenkow-Teleskope am Roque de Las Muchachos auf La Palma, Kanarische Inseln. Der riesige Segmentspiegel bündelt das Licht der von hochenergetischen Gamma-Photonen in der Atmosphäre verursachten äußerst lichtschwachen Tscherenkow-Blitze auf eine Matrix von Restlichtverstärkern im weißen Kasten links, der hier anscheinend zur Wartung zum Podest hinab geschwenkt wurde.

(Bild: Frank Vincentz, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Gammaquanten noch höherer Energie von 1 GeV bis 100 TeV (1 TeV = 1012 eV) kann man jedoch wieder von der Erde aus nachweisen – indirekt. Sie lösen Kaskaden von Teilchen in der Atmosphäre oberhalb von 30 Kilometern aus, deren Tscherenkow-Lichtblitze man zurückverfolgen muss, um die Quelle zu orten. Dies geschieht mit Tscherenkow-Teleskopen wie MAGIC (La Palma, kanarische Inseln), H.E.S.S. (Khomas-Region, Namibia) oder VERITAS (südlich von Tucson, Arizona). Bei diesen handelt es sich um sehr große (12 bis 28 Meter Durchmesser), aus Segmenten zusammengesetzte Spiegel, die das blaue, ultraschwache Tscherenkow-Licht auf eine Matrix von Restlichtverstärkern bündeln (z.B. 100×100 Pixel mit ca. 1/10° Blickfeld pro Pixel).

Mehrere (2 bis 5) Teleskope schauen auf die gleiche Stelle des Himmels und können so ein räumliches Bild des Tscherenkow-Lichtkegels aufnehmen, das eine Rückverfolgung der Ursprungsrichtung des eingeschlagenen Gammaquants erlaubt. Ein "Gammabild" (Signifikanzkarte) einer Quelle entsteht über viele Wochen Beobachtungszeit, über welche die Herkunftsorte der registrierten Tscherenkow-Blitze mit Mitteln der Statistik zurückverfolgt werden. Das sich ergebende Bild ist pixelig, aber wesentlich besser aufgelöst, als es die Zahl der Restlichtverstärker-Pixel vermuten lässt.