Schengen: Tadel für rassistische Hightech-Überwachung und Deutschland
Mit Drohnen und Algorithmen werden Grenzen immer stärker technisch überwacht, monieren Bürgerrechtler. Laut der EU kooperiert Deutschland aber zu wenig.
Die EU experimentiert bei der Überwachung der Schengen-Außengrenzen zunehmend mit "Hochrisiko-Technologien zum Migrationsmanagement". Dies beklagt die bei Mozilla tätige Forscherin Petra Molnar mit ihrem Team in einem am Montag veröffentlichten Bericht über "technologische Testbetten" im Grenzbereich für die Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi).
"Ihre Computer hassen uns auch"
Ein großer Teil der Entwicklungen in diesem Sektor erfolge ohne angemessene demokratische Kontrolle und berücksichtige nicht die sehr realen Folgen der Techniken auf die Rechte und das Leben der Menschen, schreibt Molnar. Die Studie basiert auf über 40 Gesprächen mit Flüchtlingen. Ein junger Mann aus Eritrea, der sich in Brüssel ohne Aufenthaltserlaubnis durchschlägt, fasst die Situation so zusammen: "Wir sind schwarz und die Grenzpolizei hasst uns. Ihre Computer hassen uns auch."
Viele Länder auch in Europa sehen Staatsgrenzen laut der Analyse als Labor, in dem sie Techniken zur allgemeinen Überwachung von Bevölkerungsgruppen, zur algorithmischen Entscheidungsfindung und fürs Data Mining erforschen. Die Palette reiche dabei von Drohnen, die über dem Mittelmeer patrouillieren, über Big-Data-Projekte, die Strömungen von Menschen vorhersagen sollen, bis hin zum automatisierten Befinden über Einwanderungsanträgen.
Diese risikoreichen technologischen Experimente verschärften jedoch systematischen Rassismus sowie Diskriminierung und könnten innerhalb eines bereits auf Willkür angelegten Systems zu beträchtlichem Schaden führen, moniert Molnar. Gegenwärtig gebe es nur sehr wenige rechtliche Vorschriften für den Einsatz von Grenztechnologien. Aufgrund dieses Laissez-faire-Ansatzes und der zunehmenden Abhängigkeit staatlicher Institutionen vom Privatsektor seien die humanitären Folgen "an den scharfen Kanten dieser technologischen Entwicklung" auf der Strecke geblieben.
Dramatische Auswirkungen
Der gewaltsame Einsatz der Kontrolltechniken treibe Grenzen immer weiter ins Vorfeld und trage zu einer Politik deren "Externalisierung und Militarisierung" bei. Dies führe zu dramatischen Auswirkungen wie "Ertrinken im Mittelmeer" und illegalen Pushbacks etwa durch die EU-Agentur Frontex nach Libyen oder in die Türkei. Nötig seien auf jeden Fall eine unabhängige humanitäre Folgenabschätzung, die Anerkennung der Machtungleichheiten zwischen beiden Seiten sowie mehr Transparenz.
Die EU steht laut der Untersuchung mit solchen Praktiken nicht allein da. So würden etwa auch an der Grenze zwischen den USA und Mexiko Menschen "brutal" inhaftiert und Kindern von ihren Familien getrennt, was Big-Data-Dienstleister wie Palantir erleichterten. Die EU habe aber "klare innerstaatliche und internationale Verpflichtungen zur Achtung der Menschenrechte", die durch die Technologien zur Migrationssteuerung bedroht seien.
Bedauerlicherweise würden die Perspektiven der Gemeinschaften mit gelebter Migrationserfahrung aus der Debatte über den Einsatz solcher Anwendungen ausgeklammert, beklagen die Verfasser. So endeten Menschen auf der Flucht, die bereits am gesellschaftlichen Abgrund stünden, als Versuchskaninchen für derlei risikoreiche technologische Experimente. Zu einem ähnlichen Resümee kommt laut EDRi auch die UN-Sonderberichterstatterin für Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in einem eigenen Bericht, der am Dienstag vorgestellt wird.
Kritik an Deutschland
Die Schengen-Evaluierungsgruppe des EU-Ministerrats kritisiert derweil just Deutschland, das sich als eine Art Musterknaben bei der Grenzkontrolle sieht, wegen mangelnder Kooperationsfähigkeit. Deutschland sollte Mobilgeräte wie Smartphones beschleunigt einführen, um den Zugang zu einschlägigen nationalen und internationalen Datenbanken für Polizeibeamte zu erleichtern, ist dem heise online vorliegenden, als vertraulich eingestuften Dokument von Mitte Oktober zu entnehmen.
Die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Systemen zum Fallmanagement und zur Strafsachenbearbeitung, die Bundes- und Landespolizeibehörden verwendeten, und landesweit zugänglichen gemeinsamen Verbunddateien müsse verbessert werden, fordern die Kontrolleure. Nur so könnten hiesige Ermittler auch internationalen Ersuchen nach polizeilicher Zusammenarbeit besser nachkommen und die über verschiedene Kanäle eingehenden Anfragen besser korrelieren. Einschlägige bilaterale Rechtshilfeabkommen etwa mit Belgien, der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden sollten fortgesetzt oder angepasst werden.
Die EU-Gutachter empfehlen, auch den Aufbau eines polizeilichen Informations- und Analyseverbunds stärker voranzutreiben. Dieser könnte die "vorausschauende gemeinsame nationale Risikoanalysekapazität" stärken, "die einer effizienten Reaktion auf grenzüberschreitende Kriminalität unter voller Einbeziehung aller zuständigen Strafverfolgungsbehörden förderlich" sei. Ans Bundeskriminalamt geht der Rat, stärker auf "papierlose Lösungen" zu setzen und so die Datenverarbeitung zu vereinfachen. Deutschland sollte zudem bei den nationalen Sicherheitsbehörden das Bewusstsein für EU-Datenbanken wie das Visa-Informationssystem oder die biometrische Asylbewerberdatei Eurodac schärfen und auch den potenziellen Mehrwert der Interpol-Fahndungsdatei herausstellen.
Mit den Empfehlungen der Schengen-Arbeitsgruppe solle ein gemeinsames Suchportal für Polizeien des Bundes und der Länder auf weitere Datenbanken ausgeweitet werden, hält der linke Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko dagegen. Parallel würden 2000 weitere deutsche Behörden an das Schengener Informationssystem angeschlossen. Statt die Überwachungsmöglichkeiten immer weiter aufzubohren, müsse ein Missbrauch der Datenbanken durch ein proaktives Verfahren mit Protokollierungen und Zweckangaben verhindert werden.
(mho)