Missing Link: Renaissance der Planwirtschaft im digitalen Kapitalismus (Teil 2)

Markt ist smart, und Plan ist Murks, wird gesagt. Dabei wird heute mehr als je zuvor geplant, Algorithmen lassen die unsichtbare Hand des Marktes hinter sich.

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(Bild: metamorworks/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

In den 1920er Jahren wurde noch eine Debatte darüber ausgefochten, ob geplante Ökonomien überhaupt möglich seien. Der polnische Ökonom Oskar Lange und die russisch-britische Ökonomin Abba Lerner hatten in den 1930er Jahren das Modell einer datengetriebenen Planwirtschaft entwickelt. Sie schlugen vor, zentrale Planungsinstanzen vorzusehen, die in einem ersten Schritt Preise festlegen sollten, und diese dann in einem Try-and-Error-Verfahren so lange anzupassen, bis Engpässe und Überschüsse eliminiert seien – sie beschrieben damit einen kybernetischen Regelkreis.

Die Kybernetik schien die geeignete Wissenschaft, um derlei umzusetzen. "Die Maschine zum Regieren" lautete denn auch der ominöse Titel eines Beitrags für Le Monde aus dem Jahr 1948, in dem der Dominikaner-Pater Dominique Dubarle über "Perspektiven einer rationalen Steuerung menschlicher Prozesse, etwa ökonomischer Phänomene oder einer Evolution von Meinungen" nachdachte. Reale Kalkulationsmaschinen waren noch damals noch nicht in Sicht, was ihn nicht davon abhielt, sich zu fragen: "Könnte man sich nicht eine Maschine vorstellen, die diese oder jene Art von Informationen sammelt, um dann auf Basis der Psychologie eines durchschnittlichen Menschen die wahrscheinlichsten Entwicklungen der Situation zu bestimmen?"

Die sogenannte Österreichische Schule um die Marktliberalen von Mises und Hayek hatten damals entgegnet, die Menge an benötigter Information für ein solches Modell sein schlicht nicht vorhanden oder nicht zu bewältigen. Daher bliebe allein der Markt übrig als Mechanismus zur Preisbestimmung und zum Matching von Produktion und Konsumption, von Produzenten und Konsumenten, und schon aus informationstheoretischer Sicht notwendig.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Mit dem Untergang der Sowjetunion vor nunmehr 30 Jahren konnte die Österreichische Schule einen späten, aber deutlichen Sieg im Wettstreit der ökonomischen Systeme erringen: "Der Markt", so die verbreitete Rede, hatte über "den Plan" gesiegt. Die Marktwirtschaften westlichen Typs hatten sich als flexibler erwiesen in der Allokation von Ressourcen, als geeigneter, um die Bedürfnisse der Konsumenten zu befriedigen, als dynamischer in der Entwicklung von Innovationen. Siehe auch den Missing Link: Wie die Kybernetik zur Waffe im Systemkonflikt wurde (Teil 1).

Was aber, wenn heute viel mehr geplant wird als jemals zuvor? Wenn heutige Unternehmen nach innen und nach außen bald nichts mehr dem Zufall überlassen?

Der größte Einzelhändler der Welt, Amazon, hat zuletzt 280 Milliarden Dollar umgesetzt, das ist das Dreifache des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Sowjetunion zur Zeit der Planungsdebatte vor 100 Jahren. Der Handelskonzern Walmart beschäftigt mehr Menschen, als die Alpenrepublik Slowenien Einwohner zählt, verfügt über eigene Flughäfen und Rechenzentren. In der Walmart-Welt werden immense Flüsse an Gütern, Arbeitskraft, Information bei vollständiger Abwesenheit von Marktmechanismen koordiniert und stellt somit eine weltumspannende privatkapitalistische Planungsunternehmung dar. Und das chinesische Pendant Alibaba bewältigte zuletzt an einem einzigen Tag über eine Milliarde Transaktionen – angesichts dieser Ausmaße muten die Fünfjahrespläne der Sowjetunion wie Sandkastenspiele an.

Alibabas ehemaliger Chef und Gründer Jack Ma hat nicht nur den uramerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär, beziehungsweise vom Englischlehrer zum Milliardär gelebt, und das in einem Land, das von einer kommunistischen Einheitspartei regiert wird und sich als sozialistisch betrachtet. Er sieht auch die Rückkehr der Planwirtschaft in greifbarer Nähe, unter kapitalistischen Vorzeichen allerdings. Jack Ma, selbst Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas, prophezeit, in den nächsten 30 Jahren werde die Planwirtschaft ein Comeback erleben: "Wenn wir Zugang zu allen Daten haben, finden wir die unsichtbare Hand des Marktes."

Der Kapitalismus mache selbst Planwirtschaft, so heißt es seit Neustem angesichts dieser Dimensionen – denn, was oft vergessen wird: Spätestens am Werkstor, am Eingang zur IT-Zentrale und beim Ausstieg aus der Chefetage ist Schluss mit Preissignalen, Konkurrenz und der unsichtbaren Hand des Marktes. Unternehmen stellen selbst grandiose Planungsorganisationen dar, und SAP liefert die dazu passende Software, zum Beispiel das Premiumprodukt "SAP digital boardroom", die es dem Management erlaubt, in Echtzeit sämtliche Daten bis zur kleinsten Schraube, Transaktion und Handgriff abzurufen und zur Entscheidungsfindung zu verwenden.

"Planwirtschaft ist nicht nur möglich, sondern bereits überall vorhanden, wenn auch in hierarchischer und undemokratischer Form", behaupten denn auch die beiden Autoren Leigh Phillips und Michal Rozworski. Heutige Konzerne seien nach innen undemokratische hierarchische Planungsorganisationen, sie behandeln ihre Leute so wie die Insassen der Gulags, daher sprechen die beiden auch von den beiden Zwillingsbrüdern undemokratischer Planung, der Sowjetunion und Walmart.