Schule digital: "Lehrkräfte mussten die Versäumnisse der Politik ausgleichen"

Seite 3: "Man muss aber auch vorsorgen und das Schulsystem krisenfest machen"

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Dann kommen wir noch einmal zu einer anderen Sache. Sie haben im vergangen Jahr gesagt, dass das Distanzlernen mehr selbstständiges Lernen erfordert. Dass dieses selbstständige Lernen und auch offenere Lernformen geübt werden müssen. Wurde das mit den Schülern, die man digital erreicht hat, denn wenigstens umgesetzt?

Dr. Hoffmann: Es ist tatsächlich so, dass die Schulen, die vor allem darauf setzen, dass der Lehrer das Lernen steuert, es viel schwerer hatten, den Distanzunterricht erfolgreich zu gestalten. Integrativ arbeitende Schulen konnten hier von mehr Erfolgen berichten, da Kinder es dort ohnehin gewohnt sind, mit Arbeitsplänen zu arbeiten. Für diese Schülerschaften war die Umstellung kleiner.

Es gibt aber natürlich Kinder und Jugendliche, die mehr Anleitung brauchen. Die zum einen zuhause wenig Unterstützung haben, aber auch zum anderen sehr auf das Feedback der Lehrperson, sehr auf Beziehungsarbeit angewiesen sind. Diese Kinder lernen sozusagen "für die Lehrkraft". Um dem zu begegnen, haben sich Lehrkräfte zum Beispiel überlegt, mit Kindern halbstündige Video-Tutorials durchzuführen oder auch anzurufen. Das war zeitlich und nervlich eine ungeheure Herausforderung, aber auch für jüngere Kinder war das teils essentiell. Manche Lehrkräfte haben auch davon berichtet, dass sie durch diese andere Beziehungsarbeit manche Kinder noch einmal ganz neu kennengelernt haben und nun genauer verstehen oder sehen, wie Kinder wohnen oder leben. Sie konnten dadurch viele andere Dinge besser verstehen.

Also hat sich durch diese Extremsituation das Lehrer-Schüler-Verhältnis verändert? Hat dadurch eher eine Demokratisierung zwischen Lehrkräften und Schülern stattgefunden?

Dr. Hoffmann: Ja, viele Lehrkräfte haben davon berichtet, dass sie noch einmal neu Verständnis dafür entwickelt haben, unter welchen Bedingungen Kinder leben und lernen. Man kann das also nicht nur negativ sehen. Auch wenn jetzt von den Lernlücken gesprochen wird, muss man sehen, dass oft davon ausgegangen wird, dass die Lehrkraft da vorne was erzählt und das geht direkt ins Kinderhirn über – und wenn das nicht stattgefunden hat, dann sind die Kinder dumm geblieben. Aber man muss ja sehen, dass viele Kinder und Jugendliche ganz andere Dinge gelernt haben, die sie sonst nicht gelernt hätten – unter anderem selbstständig zu arbeiten. So Schwarz-Weiß kann man das einfach nicht zeichnen.

Den von ihnen angesprochenen Wechselunterricht gibt es mittlerweile in einigen Bundesländern schon seit Mitte Januar für Grundschüler. Schüler der Sekundarstufen 1 und 2 sind nun aber schon zum Teil seit Monaten nicht mehr in den Schulen gewesen. Ist das für die älteren Schülerinnen und Schüler tatsächlich nicht so schlimm, weil diese auch mit den digitalen Hilfsmitteln und einem digital gestützten Fernunterricht besser zurechtkommen?

Dr. Hoffmann: Man geht davon aus, dass der Schriftsprachenerwerb mit der vierten oder auch fünften Klasse abgeschlossen ist – weshalb für Grundschüler der direktere Kontakt zu Lehrkräften als so wichtig angesehen wird. Das bedeutet aber nicht, dass alle Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe 1 mit der Situation gut umgehen können. Das ist höchst unterschiedlich. Auch hier gab es Schüler, die durch ihre Situation in den Familien verloren gegangen sind. Von einer Corona-Generation kann man aber insgesamt nicht sprechen.

Es gab zum Beispiel auch Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufen 1 und 2, die von der Pandemie profitiert haben, weil sie weniger Ablenkungen ausgesetzt waren. Manche Abiturienten haben sogar ein besseres Abitur erreicht, weil diese Jugendlichen zum Teil auch intensiver lernen konnten.

Was sich also eher zeigt ist, dass die Probleme, die vorher schon da waren – nämlich, dass unser Schulsystem die soziale Benachteiligung verstärkt – , dass diese Probleme durch die Pandemie und die Schulkonzepte in dieser Zeit verstärkt wurden.

Deshalb sollte man hier genauer nachdenken: Wie kann benachteiligten Kindern und Jugendlichen besser geholfen werden – vor allem auch in einer zukünftigen Pandemie, von der wir hoffen, dass sie uns lange erspart bleibt.

Man muss grundsätzlich schauen, was benachteiligten Kindern hilft – etwa gute Lernräume, Ganztagsangebote, andere Unterrichtskonzepte. Man muss aber auch vorsorgen und das Schulsystem krisenfest machen.

Genau diesen Punkt möchte ich noch ansprechen. Was ist, wenn die jetzige Pandemie nun doch länger andauert als erhofft. Momentan wird suggeriert, dass uns diese Pandemie im Sommer oder Herbst 2021 kaum noch einschränken könnte. Es ist derzeit davon auszugehen, dass von den Kultusministern ein "normales Präsenz-Schuljahr 2021/2022" geplant wird. Allerdings können Kinder und Jugendliche bisher noch gar nicht geimpft werden und wie sich Mutationen des Coronavirus' auswirken werden, wissen wir auch nicht. Wie sollte von der KMK geplant werden, damit das kommende Schuljahr besser gelingen kann?

Dr. Hoffmann: Ich glaube, dass wir eine Evaluation der Situation benötigen – und zwar von den Kommunen. Um zu sehen, wo die Ausstattung immer noch extrem hinterher hängt. Und dann müsste es mit den Schulen zusammen einen Erfahrungsaustausch geben: Was hat funktioniert und was nicht? Alle Probleme wird man nicht lösen können, aber man muss erfahren, wo es am meisten brennt, um schon einmal dort nachbessern zu können.

Das heißt zum einen: Die Gebäude müssen krisenfest gemacht werden – auch für die nächste Pandemie. Es darf keinen Klassenraum mehr geben, den man nicht lüften kann. Es darf keine Toilettenanlage ohne Seife mehr geben. Und es muss Geld vom Bund in die Kommunen gegeben werden, um diese baulichen Mängel zu beseitigen.

Zum anderen muss geschaut werden: Was braucht es noch an digitaler Ausstattung? Wo muss hier nachgebessert werden?

Und nicht zuletzt muss überprüft werden: Was müssen Lehrkräfte für einen gelingenden Distanz- und Wechselunterricht lernen? In diesem Zusammenhang muss auch geschaut werden, ob die Unterrichtskonzepte, die häufig noch in der Lehrerbildung vermittelt werden – nämlich Frontalunterricht und gleichschrittiges Lernen für Alle – noch passen. Man muss hinterfragen, ob die Dinge, die wir aus den Schulen von vor 100 Jahren übernommen haben, heute noch richtig sind.

Nach unserer Auffassung müsste ein Augenmerk auf selbstständiges Lernen und auf Selbststeuerung im Lernprozess gerichtet werden. Auch muss über die Beziehungsarbeit in der Schule neu nachgedacht werden – wie man Kindern und Jugendlichen auch in schwierigen Verhältnissen mehr gerecht wird.

Außerdem sollen Kinder einen kritisch-konstruktiven Umgang mit Technik und der Digitalisierung lernen. Sie sollen die Prozesse verstehen, die sie tagtäglich umgeben.

Eine offene Diskussion über die Schule der Zukunft würde ich mir sehr wünschen.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

(kbe)