Reporter ohne Grenzen: Deutschland rutscht bei der Pressefreiheit ab

Wegen Übergriffen bei Corona-Demonstrationen hat Reporter ohne Grenzen die Lage der Pressefreiheit in Deutschland von "gut" auf "zufriedenstellend" gesetzt.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 404 Kommentare lesen

(Bild: wk1003mike/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Deutschland hat sich im Jahr der Corona-Pandemie in der Rangliste der Pressefreiheit 2021, die die Medienorganisation Reporter ohne Grenzen (RoG) am Dienstag veröffentlicht hat, um zwei Zähler vom 11. auf den 13. Platz verschlechtert. Die Negativpunktzahl der Bundesrepublik rutscht von 12,16 auf 15,24 ab und überschreitet damit die Marke von 15 Punkten, von der an RoG die Situation in einem Land statt als "gut" als "zufriedenstellend" einstuft. Die Farbe Deutschlands auf der Weltkarte der Pressefreiheit wechselt damit von weiß auf gelb.

Die 1985 in Paris als Reporters sans Frontières (RSF) gegründete zivilgesellschaftliche Einrichtung begründet das schlechte Abschneiden der Bundesrepublik vor allem damit, dass Gewalt gegen Medienschaffende hierzulande im vorigen Jahr "eine noch nie dagewesene Dimension erreicht" habe. Es seien mindestens 65 gewalttätige Angriffe gegen Journalisten im Land gezählt worden. Damit habe sich die Zahl im Vergleich zu 2019 verfünffacht. Die Organisation geht zugleich davon aus, dass die Dunkelziffer 2020 höher lag als in den Vorjahren.

Die Mehrheit der körperlichen und verbalen Angriffe ereignete sich laut der "Nahaufnahme Deutschland" auf oder am Rande von Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen. Journalisten seien geschlagen, getreten und zu Boden gestoßen, bespuckt und bedrängt, beleidigt, bedroht sowie an der Arbeit gehindert worden. Mehr als drei Viertel der Fälle mit körperlicher Gewalt hätten sich rund um Kundgebungen ereignet. Darunter seien neben Corona-Protesten etwa auch Demos gegen das Verbot der linken Plattform linksunten.indymedia.org und zum 1. Mai gewesen. Auch die Polizei habe etwa bei einer Kundgebung in Leipzig die journalistische Arbeit behindert.

Michael Rediske aus dem Vorstand von Reporter ohne Grenzen sprach von einem "deutlichen Alarmsignal". Unabhängiger Journalismus sei das einzig wirksame Mittel gegen die Desinformationskampagne, die Corona begleite. Wenn die Welt nun hoffentlich bald wieder zu mehr Normalität finde, müsse "auch der Respekt für die unabdingbare Rolle des Journalismus für eine funktionierende Gesellschaft zurückkehren".

Als positives Zeichen für die Pressefreiheit in Deutschland wertet die Organisation das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen die Massenüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Doch das BND-Gesetz bleibe auch mit der Ende März vom Bundestag verabschiedeten Novelle problematisch und schließe die Möglichkeit zum Ausspähen ausländischer Medienschaffender weiter nicht aus.

Zudem wolle die Bundesregierung zahlreiche neue Befugnisse für die Geheimdienste und die Bundespolizei etwa mit der Lizenz für behördliches Hacken mit dem Staatstrojaner schaffen, heißt es in dem Deutschland-Bericht. Die Große Koalition fahre bei heimlichen Online-Durchsuchungen und der Quellen-TKÜ insgesamt einen Zickzack-Kurs. Zudem forderten Innenpolitiker immer wieder einen neuen Anlauf bei der Vorratsdatenspeicherung, obwohl die Maßnahme höchstrichterlich umstritten sei. Die EU-Whistleblower-Richtlinie habe Deutschland noch immer nicht in nationales Recht umgesetzt, weil die CDU/CSU-Fraktion einen weitreichenden Schutz blockiere.

Insgesamt stehen nach über einem Jahr Corona-Pandemie Journalisten in vielen Teilen der Welt "so stark unter Druck wie selten zuvor", schreibt RSF. Informationssperren, staatliche Desinformation, willkürliche Festnahmen und Gewalt gegen Medienschaffende schränkten die Pressefreiheit auf allen Kontinenten ein. Die Rangliste 2021 zeige, dass repressive Staaten die Pandemie missbrauchten, um freie Berichterstattung weiter einzuschränken. Auch gefestigte Demokratien täten sich in der Krise aber schwer, angemessene Arbeitsbedingungen für Journalisten zu gewährleisten.

Noch nie seit Einführung der aktuellen Methodik in 2013 gab es so wenige Länder, in denen RSF die Lage der Pressefreiheit als "gut" bewertete. Ihre Zahl sank von 13 auf 12. In 73 von 180 untersuchten Ländern wird unabhängiger Journalismus weitgehend oder vollständig blockiert (rot oder schwarz auf der Karte), in 59 weiteren ernsthaft behindert (orange). Demnach ist die Pressefreiheit in fast drei Viertel der Länder der Welt zumindest bedeutend eingeschränkt.

In verschiedenen Teilen des Globus hätten Staats- und Regierungschefs sogar gegen die Institution Presse wie auch gegen einzelne ihrer Vertreter gehetzt und so "ein Klima der Aggressivität und des Misstrauens" geschaffen, rügt RSF. Beispiele seien Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien und Ministerpräsident Janez Janša in Slowenien. In den Vereinigten Staaten sei die aggressive Atmosphäre in nie dagewesenem Ausmaß in Gewalt gegen Journalisten umgeschlagen, vor allem im Umfeld der Black-Lives-Matter-Proteste.

Wie in den vergangenen Jahren machen die skandinavischen Länder die Spitzenplätze unter sich aus: Zum fünften Mal in Folge liegt Norwegen auf Platz 1, auch wenn sich norwegische Medien im vergangenen Jahr über einen schwierigen Zugang zu öffentlichen Informationen zur Corona-Pandemie beschwerten. Finnland bleibt auf Rang 2, während Schweden (3) und Dänemark (4) die Plätze getauscht haben. Direkt darauf folgt Costa Rica (5) als mit Abstand bestplatziertes Land Lateinamerikas. Dort werden RSF zufolge Menschenrechte und Meinungsfreiheit respektiert "wie in keinem anderen Land der Region".

Auch am Ende der Tabelle hat sich wenig getan: China verharrt unter anderem "aufgrund umfassender Internetzensur und Überwachung sowie Propaganda im In- und Ausland auf Platz 177". Es folgten wieder die "drei totalitären Regime" Turkmenistan (178), Nordkorea (179) und Eritrea als absolutes Schlusslicht. Alle hätten gemeinsam, "dass die jeweilige Regierung die komplette Kontrolle über alle Informationsflüsse hält".

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Umfrage (Opinary GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Opinary GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Besorgniserregende Zustände herrschen laut dem Überblick teils auch in Europa. Großbritannien (33) sende "ein verheerendes Zeichen für die Pressefreiheit aus, indem es den Wikileaks-Gründer Julian Assange seit nunmehr zwei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis festhält". Ungarn (92) habe mit dem landesweit größten Nachrichtenportal Index.hu und dem kritischen Radiosender Klubrádió zwei weitere wichtige unabhängige Medien de facto ausgeschaltet. In Polen (64) berichte das öffentliche Fernsehen mittlerweile unverhohlen parteilich.

In Belarus (158) versuchte das Regime von Alexander Lukaschenko nach der umstrittenen Präsidentenwahl im August "mit brutaler Gewalt und massiven Repressionen, unabhängige Berichte über die Situation im Land zu unterdrücken", schreibt RSF. "Bis Jahresende wurden mehr als 400 Medienschaffende festgenommen, einige berichteten von schweren Misshandlungen im Gefängnis." In Russland (150) habe das Parlament eine Vielzahl von Gesetzen verabschiedet, "die die Pressefreiheit weiter einschränken und Online-Überwachung verstärken". Die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor zähle zu den größten Feinden des Internets.

Aus der Summe der Punktwerte aller bewerteten Länder bildet RSF einen globalen Indikator der Pressefreiheit, der eine Bewertung der Entwicklung weltweit sowie einen Vergleich verschiedener Weltregionen erlaubt. Laut der aktuellen Zahl hat sich dieser Index trotz der vielen schlechten Länderdarstellungen gegenüber dem Vorjahr minimal verbessert, gegenüber dem Startjahr 2013 aber um rund 12 Prozent verschlechtert. Grundlage der Einschätzung ist ein Fragebogen zu Aspekten unabhängiger journalistischer Arbeit, den RSF an Hunderte Journalisten, Wissenschaftler, Juristen und Menschenrechtler sowie an ein eigenes Korrespondentennetzwerk verschickt. Kritiker monieren, dass das Verfahren nicht sehr transparent sei.

(olb)