"Inhalte überwinden" oder "ein wichtiges Signal für junge Frauen"

Grafik: geralt auf Pixabay / Public Domain

Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen wird mit Aufbruch und Neuanfang in Verbindung gebracht. Dabei ist Joschka Fischers Geist nicht fern und eine Koalition mit CDU und CSU gut möglich

Ist die Nominierung von Armin Laschet als Kanzlerkandidat der Unionsparteien ein "wichtiges Signal für ältere Männer"? - Natürlich nicht, denn der 60-jährige Kneipenwirt, der wegen der Corona-Krise für immer schließen muss, und der gleichaltrige Pfleger, der sich fragt, ob er sich am Tag seines Renteneintritts gleich als Patient hinlegen kann, haben rein gar nichts davon, dass ein 60-jähriger Polit-Karrierist zum Kanzlerkandidaten gekürt wurde. Liegen die Dinge völlig anders, wenn die Nominierung von Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen als "wichtiges Signal für junge Frauen" bezeichnet wird?

Vergleichbar ist das nur bedingt: Abgesehen davon, dass in Deutschland seit mehr als 15 Jahren eine Frau Kanzlerin ist, sind Frauen allgemein in Spitzenpositionen immer noch weniger selbstverständlich - und für eine deutsche Kanzlerkandidatin ist 40 tatsächlich jung. International gab und gibt es schon jüngere weibliche Staatsoberhäupter - wie etwa die 35-jährige finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin. Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern ist nur ein halbes Jahr älter als Baerbock, aber bereits seit Oktober 2017 im Amt. Die aktuelle deutsche Kanzlerin Angela Merkel war dagegen schon zum Zeitpunkt ihrer Nominierung durch die CDU 2005 zehn Jahre älter als Baerbock heute.

Altlasten von "Rot-Grün" und Merkel

Allerdings war Merkels Nominierung damals auch kein "Signal", das ostdeutschen Frauen ihrer Generation irgendwie weitergeholfen hätte. Im Gegenteil: Merkel war schon auf der Oppositionsbank Unterstützerin der "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010, die gerade im deindustrialisierten Osten, gerade für Menschen ihrer Generation und gerade für Frauen ein schikanöses Verarmungsprogramm waren und sind. Auf den Weg gebracht wurden sie von der "rot-grünen" Koalition unter Gerhard Schröder (SPD) - Merkel hätte damals nur gerne noch mehr davon gehabt und bezeichnete die Pläne im Jahr 2003 als "Trippelschritte in die richtige Richtung".

Die Folge war unter anderem, dass etliche Frauen in Ehen oder Partnerschaften aus dem Bezug von Lohnersatzleistungen gedrängt und an männliche Ernährer verwiesen werden konnten. Zum Teil versuchten Kontrolleure der Jobcenter schon aus Indizien für eine lockere Beziehung - wie etwa Männersocken oder einer weiteren Zahnbürste in der Wohnung einer Klientin - zu schließen, dass da doch jemand wäre, der ihr den Lebensunterhalt zahlen könnte.

Gefeiert wurde Merkel im "Kanzlerin-Wahljahr" vor allem von der westdeutschen Feministin Alice Schwarzer - und das praktisch nur wegen ihres Geschlechts. Hauptsache eine Frau, egal was sie vertritt. Frei nach dem Motto der Satiretruppe "Die Partei", die den Slogan "Inhalte überwinden" auf Wahlplakate druckte. Die Emma-Herausgeberin Schwarzer meinte das aber damals bluternst und wurde dafür auch noch als "Journalist des Jahres" ausgezeichnet: "Das Kanzlerin-Wahljahr 2005 war auch das Jahr der Alice Schwarzer", hieß es in der Begründung der Jury, der Mitarbeitende der ARD und der Berliner Zeitung angehörten. Schwarzer mag die damalige Hofberichterstattung inzwischen peinlich sein - aber nicht, weil sie journalistische Prinzipien verinnerlicht hätte, sondern weil sie Merkel jetzt wegen deren Meinung zum Islam weniger toll findet.

War Merkel nur ehrlicher?

Natürlich klingen die sozial-ökologischen Versprechungen im Entwurf für das Wahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 2021 sympathischer als das eiskalte neoliberale Gewäsch von Merkels CDU im Jahr 2005, als sie sich Mühe geben musste, die eiskalte neoliberale Praxis einer "rot-grünen" Regierung verbal noch zu toppen. Heute versprechen die Grünen sogar, einen Teil der Altlasten aus dieser Zeit wieder abzuschaffen, zum Beispiel das Hartz-IV-Sanktionssystem. Wer den Grünen und ihrer Kanzlerkandidatin das glaubt und Baerbocks Aufrüstungsambitionen im Kramp-Karrenbauer-Stil überhört hat, kann der Meinung sein, dass diese Frau frischen Wind in den Politikbetrieb bringt.

"Sie steht noch mehr für Aufbruch und noch mehr für einen Kulturbruch als es bis eben der Fall war, allein dadurch, dass sie jünger ist und keine Erfahrung im Regieren mitbringt", meinte etwa die Publizistin Ferda Ataman im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Die Frage ist aber, ob Merkel mit ihrer neoliberalen "Reform"-Propaganda nicht einfach nur ehrlicher war.

Abgesehen davon könnten Unionsparteien und Grüne nach der Bundestagswahl im September sowieso im Koalitionsbett landen. Die Grünen behaupten in ihrem Programmentwurf: "Wir wissen, wie man eine sozial-ökologische Marktwirtschaft entwickelt, die zukunftsfähige Jobs, sozialen Schutz und fairen Wettbewerb in Deutschland und Europa zusammenbringt, wie man der Globalisierung klare Regeln setzt und Tech-Konzerne angemessen besteuert." In einer Koalition mit den CDU und CSU dürften sie aber nicht in die Verlegenheit kommen, dieses "Wissen" anzuwenden. Ähnliches taten sie ja schon nicht, als sie im Bund an der Seite der SPD regierten. Und als Seniorpartner hätten sie nicht mal mehr eine Ausrede.

Ob sich Annalena Baerbock als Kanzlerin wirklich besser verhalten würde als der alte weiße Mann Joschka Fischer, als er Deutschlands erster grüner Vizekanzler und Außenminister wurde, ist keineswegs sicher. Immerhin stand er für den Nato-Krieg gegen Jugoslawien 1999 und für die Enttabuisierung des Militärischen bei den Grünen, mit der die frisch gekürte Kandidatin quasi schon aufgewachsen ist.

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