Digitale Versorgung: Bundestag treibt Ablösung der Gesundheitskarte voran

Eine "sichere digitale Identität" soll die Chipkarten in der Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen ergänzen, Pflege-Apps auf Rezept kommen.

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(Bild: Tyler Olson/Shutterstock.com)

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Der Bundestag hat am Donnerstag den Gesetzentwurf "zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege" (DVPMG) beschlossen. Die große Koalition treibt damit durch umfangreiche Änderungen an der Initiative der Bundesregierung die Ablösung der Speicherung des elektronischen Medikationsplans, der Notfalldaten sowie der digitalen Hinweise des Versicherten zu persönlichen Erklärungen von der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) deutlich voran.

Künftig sollen diese Informationen in Online-Anwendungen der Telematikinfrastruktur (TI) bereitgestellt werden, also letztlich über die Cloud. Versicherte könnten darauf dann über die Benutzeroberfläche für die elektronische Patientenakte (ePA) zugreifen. Diese muss spätestens ab Anfang 2022 nicht mehr nur über mobile Endgeräte, sondern auch über einen Desktop-Computer nutzbar sein.

Spätestens von Anfang 2023 an haben die Krankenkassen den Versicherten ergänzend zur eGK auf Verlangen eine "sichere digitale Identität für das Gesundheitswesen barrierefrei zur Verfügung" zu stellen. Diese soll dann von 2024 an ebenfalls zur Authentisierung des Versicherten und als Versicherungsnachweis dienen. Die Gematik wird dazu Anforderungen an die Sicherheit und Interoperabilität festlegen.

Die Projektgesellschaft erhält den Auftrag, einen "sicheren, wirtschaftlichen, skalierbaren und an die unterschiedlichen Bedürfnisse der Nutzer angepassten Zugang" zur TI als "Zukunftskonnektor" zu entwickeln. Bisher gilt die IT-Sicherheit hier als mangelhaft. Versicherte, Leistungserbringer und Kostenträger sollen zum Austausch von Daten und zur Kommunikation künftig neben E-Mail auch Videokonferenzen und einen Messaging-Dienst nutzen können.

Für das Vorhaben stimmten die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD sowie die Grünen. Die AfD und die Linke waren dagegen, die FDP enthielt sich. Versicherte sollen damit auch die Möglichkeit bekommen, Daten aus medizinischen Apps sowie Rezept- und Dispensierinformationen in ihre ePA einzustellen. Der Zugriff auf die Akte gestaltet sich momentan noch schwierig. Die Gesellschaft für Telematik (Gematik) soll die Krankenkassen daher unterstützen, indem sie etwa eine "Referenzimplementierung oder Teile davon in einer Open-Source-Lizenz" bereitstellt.

In der Pflege können mit dem Gesetz mehr "digitale Helfer" zum Einsatz kommen: Das Parlament schafft ein Verfahren zur möglichen Erstattungsfähigkeit digitaler Pflegeanwendungen (DiPas). Für die Zulassung ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zuständig. Die Kosten für die soziale Pflegeversicherung bezifferte die Regierung bis 2025 für Apps für 365.000 Personen mit Mehrausgaben von gut 130 Millionen Euro. Dem stünden "nicht quantifizierbare Entlastungen entgegen".

Die Hoffnung ist, dass DiPas helfen, den eigenen Gesundheitszustand durch Übungen und Trainings zu stabilisieren oder zu verbessern. Das Risiko für Stürze könne verringert, das Gedächtnis trainiert oder die Kommunikation zwischen Pflegefachkräften und Angehörigen verbessert werden. Die Pflegeberatung soll ebenfalls um digitale Elemente erweitert werden.

2019 hatte der Bundestag mit dem "Digitale-Versorgung-Gesetz" bereits festgesetzt, dass gesetzlich Krankenversicherte unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen per Rezept haben. Den Datenschutz und die IT-Sicherheit von Apps in diesem sensiblen Bereich stärken die Abgeordneten nun etwa durch eine Schweigepflicht für Hersteller, Vorgaben zur Pseudonymisierung und Datenminimierung sowie ein verpflichtendes Sicherheitszertifikat.

Zusammen mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) soll das BfArM im Einvernehmen mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten Prüfkriterien und Anforderungen für DiPas festlegen. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen muss dem Bundestag jährlich einen Bericht vorlegen, wie und in welchem Umfang den Versicherten einschlägige Leistungen gewährt werden.

Der Telemedizin wollen die Volksvertreter auf die Sprünge helfen. So sollen beim Vermitteln von Arztterminen in der Praxis auch Online-Leistungen vereinbart werden. Der kassenärztliche Bereitschaftsdienst, Psychotherapeuten, Heilmittelerbringer und Hebammen dürfen ebenfalls telemedizinische Tätigkeiten anbieten. Zudem kann eine datengestützte Überwachung von Patienten erfolgen. Für zehn Millionen Euro soll bis 2024 ein "Modellvorhaben zur Erprobung von Telepflege" durchgeführt werden. Eine Krankschreibung darf generell per "Fernbehandlung" erfolgen, beim erstmaligen Feststellen der Arbeitsunfähigkeit aber zunächst nur bis zu drei Tage.

Die Interoperabilität im Gesundheitswesen will der Gesetzgeber stärken, das nationale Gesundheitsportal mit mehr Daten füttern: Dessen Betrieb und Weiterentwicklung sollen in diesem und im nächsten Jahr mit insgesamt 9,5 Millionen Euro zu Buche schlagen.

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hatte während des Gesetzgebungsverfahrens davor gewarnt, "voreilig" digitale Identitäten einzuführen. Der elektronische Heilberufsausweis, die eGK und ein sicherer Konnektor seien entscheidende Elemente der Sicherheit in der TI. Eine Authentifizierung ohne Chipkarte müsse erst geprüft werden. Die Bundesärztekammer hatte ähnliche Bedenken.

"Zentrale Online-Datenspeicher torpedieren unsere ärztliche Schweigepflicht", schlägt Silke Lüder von der Freien Ärzteschaft, in die gleiche Kerbe. "Die Patienten vertrauen sich uns an, in dem berechtigten Glauben, dass wir ihre Daten schützen." Der Cloud-Ansatz stelle einen tiefen Einschnitt in die Beziehung zu den Versorgten dar. Auch der Deutsche Ärztetag habe sich klar dagegen ausgesprochen. Der Gesetzgeber greift demzufolge auch massiv in Praxisabläufe ein.

"Mit digitalen Pflegeanwendungen und der Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte bringt uns das DVPMG zwar einen wichtigen Schritt voran", erklärte der IT-Verband Bitkom. Für ein modernes, digitales Gesundheitssystem reiche dies aber nicht. Insbesondere der "halbherzige Ausbau der Videosprechstunden" sei angesichts der in der Corona-Pandemie massiv gestiegenen Nachfrage der Patienten nicht nachvollziehbar.

Tino Sorge (CDU) lobte den "ausgezeichneten Gesetzentwurf". Es gelte aber, noch mehr Daten für die Gesundheitsversorgung zur Verfügung zu stellen. Dirk Heidenblut (SPD) betonte: "Endlich gehen wir den Weg, dass die elektronische Gesundheitsakte nicht mehr der Datenspeicher ist." Dies mache digitale Angebote viel einfacher nutzbar.

Gerade bei der Anbindung der Pflege sei das Gesetz nicht ambitioniert genug, beklagte Nicole Westig (FDP). Digitalisierung müsse umfassender gedacht werden. Startups im Gesundheitswesen blieben außen vor. Das Gesundheitsportal bedrohe die Pressefreiheit. Es sei gut, digitale Anwendungen in der Pandemie zu stärken, meinte der Linke Achim Kessler. Ein Missbrauch von Gesundheitsdaten könne aber lebenslange Folgen haben. Es sei bedenklich, ohne wissenschaftliche Prüfung Apps an Patienten auszuprobieren. Die Grüne Maria Klein-Schmeink kritisierte, Chancen der besseren Beteiligung von Patienten und der Gesundheitsprävention würden nicht genutzt.

(mho)