Bundestag gibt Staatstrojaner für Geheimdienste und Bundespolizei frei

Die große Koalition erweitert die Befugnisse der Sicherheitsbehörden massiv. Alle Nachrichtendienste von Bund und Ländern dürfen bei WhatsApp & Co. mitlesen.

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(Bild: Sasun Bughdaryan/Shutterstock.com)

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Erneut hat Schwarz-Rot Warnungen von Sachverständigen vor einer unverhältnismäßigen und damit potenziell grundgesetzwidrigen Initiative in den Wind geschlagen und den Gesetzentwurf zur "Anpassung des Verfassungsschutzrechts" durch den Bundestag geschleust. Mit dem Beschluss vom Donnerstag dürfen künftig das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der Bundesnachrichtendienst (BND), der Militärische Abschirmdienst (MAD) und die Verfassungsschutzämter der Länder mithilfe von Staatstrojaner Messenger-Kommunikation etwa via WhatsApp, Signal oder Threema sowie Internet-Telefonate und Video-Calls überwachen.

Die Opposition stimmte geschlossen gegen das Vorhaben, mit dem der Gesetzgeber laut Juristen "sehenden Auges in die Verfassungswidrigkeit" läuft. Insgesamt passierte der Entwurf mit 355 zu 280 Stimmen bei vier Enthaltungen das Plenum. Zulässig wird die sogenannte Quellen-TKÜ plus. So dürfen die Agenten nicht nur die laufende Kommunikation direkt am gehackten Endgerät abgreifen, bevor sie ver- oder nachdem sie entschlüsselt wurde. Dazu kommt die bereits im Entwurf der Bundesregierung vorgesehene Lizenz, wonach sie auch auf gespeicherte Chats und Mails zugreifen können.

Anbieter von Telekommunikationsdiensten müssen die "berechtigten Stellen" dabei unterstützen, "technische Mittel" wie Staatstrojaner zur Quellen-TKÜ "einzubringen" und die Kommunikation an sie umzuleiten. Experten und Provider beklagten hier ein besonders großes Missbrauchspotenzial: Damit werde nicht nur eine Kopie der Kommunikation ausgeleitet, sondern gezielt die Manipulation der Daten durch die Geheimdienste ermöglicht.

Die große Koalition hat mit einem Änderungsantrag noch klargestellt, dass die Pflichten "ausschließlich diejenigen treffen, die eine Telekommunikationsanlage betreiben, mit der öffentlich zugängliche Dienste" erbracht werden. Anbieter von App-Stores oder einzelner Anwendungen bleiben so außen vor. Zudem hat Schwarz-Rot eine besondere Berichtspflicht über Maßnahmen der Quellen-TKÜ eingeführt.

Ferner haben die Abgeordneten die Befugnisse zur Überwachung von Einzelpersonen – statt Gruppen – ausgeweitet und den Geheimdiensten dabei ein weites Ermessen eingeräumt. Dies begründen sie vor allem mit gefährlichen Aktivitäten von Individuen im Internet. Der Verein Digitale Gesellschaft befürchtet: "Mit einem derartigen Ermessen wird den Verfassungsschutzämtern eine noch weitergehende Deutungshoheit über die politische Meinungsäußerung im Netz zugesprochen. Statt präziser Regeln für Geheimdienste zu formulieren, wird ihnen weitgehend freie Hand gegeben."

Im Polizeibereich sind Verfassungsbeschwerden gegen die bestehenden Möglichkeiten zum Staatstrojaner-Einsatz anhängig. Das Bundeskriminalamt und der Generalbundesanwalt verwendeten das Instrument in den vergangenen Jahren nicht. Trotzdem hat der Bundestag parallel den Entwurf zur Reform des Bundespolizeigesetzes verabschiedet und damit auch der für Bahnhöfe, Flughäfen und die Landesgrenzen zuständigen Sonderpolizei die Befugnis erteilt, mit Richtervorbehalt Bundestrojaner auf Geräte Verdächtiger zu spielen. Die Opposition stimmte dagegen.

Gestrichen haben CDU/CSU und SPD mit ihrem Änderungsantrag am bisherigen Entwurf für das Gesetz zur "Modernisierung der Rechtsgrundlagen der Bundespolizei" die Möglichkeit des Zugriffs auf bereits gespeicherte Inhalte und Umstände der Kommunikation im Rahmen der Quellen-TKÜ. Es kommt aber eine allgemeine Erlaubnis, WhatsApp & Co. mit dem Werkzeug zu überwachen. Andrea Lindholz (CDU) hob hervor, dass die Klausel vor allem auf Menschenhandel und Schleusung eingeschränkt sei.

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber warnte während des Gesetzgebungsverfahrens, dass der einstige Grenzschutz mit dem per Quellen-TKÜ erfassten Datenstrom auch Zugangsdaten für Online-Dienste wie Passwörter im Klartext sowie damit einen umfassenden Zugriff etwa auf E-Mail-Postfächer und Cloudspeicher erhalte. Selbst unbemerkte Manipulationen sowie Identitätsdiebstahl wären so möglich. Enthalten sei selbst eine "verfassungsrechtlich höchst problematische Erweiterung der Quellen-TKÜ" auf noch weiter gehende heimliche Online-Durchsuchungen.

Fortan darf die Bundespolizei ferner die Telekommunikation der Bürger präventiv überwachen etwa "zur Abwehr einer dringenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person". Dies betrifft sogar Fälle ohne konkreten Anfangsverdacht und gilt auch für die Quellen-TKÜ. Hier werde die Schwelle angesichts der Tiefe eines solchen Grundrechtseingriffs viel zu niedrig angesetzt, hatte Kelber kritisiert. So würden etwa die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten engen Bedingungen zum Erfassen von Kontaktpersonen unterlaufen.

Die Befugnis der Bundespolizei zu erkennungsdienstlichen Maßnahmen wie etwa dem Abnehmen von Fingerabdrücken wird ebenfalls auf Fälle noch gar nicht begangener Straftaten erweitert. Die Beamten dürfen zudem uneingeschränkt gegen "fernmanipulierte Geräte" wie Drohnen vorgehen. Der Einsatzbereich der Bundespolizei wird generell deutlich erweitert. Sie kann künftig auf Ersuchen einer Staatsanwaltschaft etwa in länderübergreifenden komplexen Sachverhalten wie bei Tätergruppierungen tätig werden, die sich auf Aufbrüche von Fahrkarten- und Geldautomaten, Schleusungskriminalität, Kfz-Diebstahl, die Einfuhr von Drogen oder Wohnungseinbrüche konzentriert haben.

Eingeführt hat der Bundestag ferner eine Rechtsgrundlage für die Übermittlung von Bildaufzeichnungen, die die Bundespolizei in ihrem Zuständigkeitsbereich erstellt hat, an die Polizeien der Länder. Voraussetzung ist, dass die Weitergabe erforderlich ist und die Empfänger berechtigt wären, die Aufnahmen selbst zu erstellen. Gleiches gilt für die Nutzung selbsttätiger Bildaufzeichnungsgeräte der Bundespolizei wie Bodycams durch die Länderpolizeien.

Die "GroKo" komme in den letzten Stunden der Legislaturperiode mit verheerenden, unausgegorenen und verfassungsrechtlich hoch problematischen Instrumenten um die Ecke, rügte der Grüne Konstantin von Notz: Alle vom Chaos Computer Club (CCC) bis zu den Tech-Giganten hätten gesagt: "Bitte machen Sie es nicht." Die für Trojaner benötigten Sicherheitslücken beträfen 82 Millionen Menschen und die Wirtschaft. Durch diese könnten andere Nachrichtendienste genauso gehen wie Kriminelle. Es sei daher nicht verwunderlich, dass Deutschland im Bereich der IT-Sicherheit "so maximal bescheiden aufgestellt ist". Staatshacking hätte nicht einen einzigen Anschlag verhindert.

Stephan Thomae (FDP) erinnerte daran, dass Saskia Esken, Co-Vorsitzende der SPD, gerade noch Staatstrojaner als "fundamentalen Eingriff in unsere Freiheitsrechte" bezeichnet habe. Die SPD gebe die Bürgerrechte trotzdem ohne Not preis und betreibe Sicherheitspolitik als Sicherheitsrisiko. "Heute ist ein schwarzer Tag für die Bürgerrechte", ergänzte der Liberale Konstantin Kuhle. Der Linke André Hahn betonte: Die Verfassungsschutzreform sei "ganz offenkundig verfassungswidrig".

Die Jusos hatten ihre "Genossen" am Mittwoch in einem Brandbrief noch aufgefordert, die Lizenz für Staatstrojaner aus beiden Gesetzen zu streichen. Die SPD dürfe keine Initiative mittragen, in der die Quellen-TKÜ plus schon "unterhalb der Schwelle eines konkreten Tatverdachts" möglich werde. Die Jugendorganisation erinnerte auch daran, "dass insbesondere die Arbeit der Verfassungsschutzämter in den letzten Jahren vor allem durch Skandale geprägt war". Die Beschlüsse fügten der Partei "massiven Schaden und den Verlust von Glaubwürdigkeit" zu.

Es gelte, den Rechtsterrorismus zu bekämpfen, verteidigte Uli Grötsch (SPD) das neue Verfassungsschutzrecht. Die Koalition habe aufgrund der zunehmenden Radikalisierung von Einzeltätern im Netz reagieren müssen. Es sei wichtig, mutig zu sein. Über Messenger kommunizierten die Feinde der freiheitlich-demokratischen Ordnung. Wer von Massenüberwachung der Bürger spreche, sage die Unwahrheit. Extremismus könne nicht mit Mitteln aus der Zeit der Wählscheibe bekämpft werden, unterstrich Michael Kuffer (CSU). Die Grünen arbeiteten Terroristen direkt in die Hände.

"Die Novelle des Verfassungsschutzgesetzes schießt mit völlig unverhältnismäßigen Maßnahmen weit über das Ziel einer effizienten Kriminalitätsbekämpfung hinaus", monierte der IT-Verband Bitkom. Die neue Pflicht "zur Erteilung von Auskünften über die Strukturen von Netzen, Diensten und Anlagen an staatliche Stellen" stehe "im diametralen Widerspruch zu den schützenswerten Sicherheitsanforderungen kritischer Infrastrukturen". Die Medienorganisation Reporter ohne Grenzen kündigte an, gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Niko Härting "zügig Verfassungsbeschwerde einzulegen". Mit dem ausgeweiteten staatlichen Hacking drohten gravierende Schäden für die Pressefreiheit und den digitalen Quellenschutz.

(bme)